Typisch Mädchen
stille bereits im sechsten Monat und teile ihr meinen Entschluß mit, daß ich Anneli noch weiter stillen werde. Da bekomme ich zu hören: »Du bist ja verrückt und übertreibst. Jetzt habe ich schon so lange gestillt, da brauchst du doch Anneli wirklich nicht länger zu stillen als ich Maximilian.«
Ich hatte während der Schwangerschaft oder früher wissenschaftliche Arbeiten zum Stillverhalten der Mütter gelesen. Jedenfalls weiß ich aus den theoretischen Arbeiten, daß Mädchen weniger häufig, und wenn, dann über einen kürzeren Zeitraum hinweg, gestillt werden als Buben 1 . Erklärt mich die Bekannte deshalb für verrückt, weil auch sie davon ausgeht, daß es das übliche Maß übersteigt, wenn ein Mädchen länger als ein Bub gestillt wird, wenn die unausgesprochene Norm - wir hatten nie über diese Statistik geredet -verletzt wird? Darf es nicht sein, daß eine Mutter wegen eines Mädchens mehr Mühe auf sich nimmt als eine andere wegen ihres Sohnes ? Maßstab ist der Sohn.
Ich spreche mit einer jungen, frei praktizierenden Hebamme, die ich zufällig kennenlerne. Sie macht bei den Wöchnerinnen Nachsorge. Ich erzähle ihr von dem Vorwurf der Bekannten. Sie stutzt, überlegt und stellt erstaunt fest, ihr falle erst jetzt auf, daß bei den acht Wöchnerinnen, die sie zur Zeit betreue, sechs Buben gestillt würden und die beiden Mädchen nicht!
Natürlich hat diese Aussage keinen Beweiswert; es ist rein zufällig, daß sich Statistik und der kleine Ausschnitt aus der Wirklichkeit decken.
12. Oktober 1981 (2 Monate)
In Berlin besucht mich auch Isabell, um das Neugeborene zu sehen. Sie ist Mutter eines Zwillingspärchens, von Ben und Sarah. Natürlich dreht sich ein Teil des Gesprächs um Geburt und Kinder.
Sie erzählt: »Schon kurz nach der Geburt der Zwillinge im Krankenhaus hatte ich ein starkes Unterschiedsgefühl zwischen Ben und Sarah, obwohl ja beide, weil sie eine Frühgeburt waren, im Inkubator lagen. Auf mich wirkte der Junge vom Gesichtsausdruck her robuster, obwohl er es von seinem Gesundheitszustand her in Wirklichkeit gar nicht war. Vor der Geburt war ich eigentlich überhaupt nicht darauf gespannt, welches Geschlecht die Kinder haben würden. Ich hatte mir weder Jungen noch Mädchen vorgestellt, obwohl ich ja schon drei Töchter habe. Ich war also vollkommen unbefangen, als es dann soweit war. Und trotzdem, als ich sie dann beide das erste Mal im Arm hatte, begrüßte ich sie auf der Welt außerhalb des Brutkastens mit den Worten: >Guten Tag mein Männlein und mein Weiblein.< Jetzt erst fällt mir ein, daß ich trotz der von mir so empfundenen Offenheit gegenüber beiden Kindern zuerst das >Männlein< vor dem >Weiblein< begrüßt, ihn an die erste Stelle gesetzt habe.« Isabell zieht daraus den Schluß, daß sie sich spontan und primär auf den Mann bezog und ihm die erste Aufmerksamkeit schenkte. Erst in zweiter Linie fand dann das Mädchen den Rest der mütterlichen Aufmerksamkeit. Ich überlege: Wenn schon eine in der Frauenbewegung engagierte und emanzipierte Frau wie Isabell diese Reaktionen bei sich feststellte, wie sehr muß bei anderen, weniger emanzipierten Müttern die Bereitschaft bestehen, sich primär dem männlichen Säugling zuzuwenden. Die Fäden des Spinnennetzes, in dem wir sitzen, kleben an uns wie zerkauter Kaugummi an Kinder- und Mütterhänden. Wir unterhalten uns auch über die Behandlung der Babys in den ersten Monaten, und Isabell berichtet von ihren Erfahrungen mit den Zwillingen: »Wenn die Zwillinge schrien, habe ich versucht, beide hochzunehmen. Nur schrie Ben immer etwas mehr als Sarah und war deshalb auch öfter auf meinem Arm. Sie schlief nach dem Stillen wieder leichter ein und wurde dann hingelegt. Ben dagegen habe ich wegen seiner Unruhe so lange getragen, bis auch er einschlief - auf meinem Arm. Er durfte wegen seines Leistenbruches ja auch nicht schreien. So hatte er eben mehr Kontakt und Nähe zu mir als seine Schwester - er war eben der Schwächere.
Beim Stillen war es fast immer so, daß ich Ben gegenüber viel toleranter war als bei Sarah. Er durfte eher und dann auch länger an die Brust als sie. Sarah ließ ich immer ziemlich lange nörgeln, quengeln oder brüllen, bis ich fand, daß sie es wirklich nötig hatte, und sie an die Brust nahm. Das war natürlich nicht Absicht oder böser Wille. Ich fand eben, sie packt das alles leichter.«
Rousseau schrieb: »... Sie (die Mädchen) müssen beizeiten an Zwang gewöhnt werden... man muß sie gleich
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