Typisch Mädchen
unwidersprochen.
Anneli fährt gerne Bus. Ich fahre mit ihr mit dem 19er den Kudamm entlang. Es gibt mehrere große Filmplakate zu sehen, unter anderem eines für den Film »Vom Winde verweht«. Es zeigt ein Frauengesicht im Profil und halb liegend einen Teil des Oberkörpers - die Brust vom Kleidausschnitt halb bedeckt. Die Augen blicken nach oben, ein großes Männergesicht beugt sich herab und drückt einen Kuß auf den Frauenmund.
Anneli stellt im Vorbeifahren fest: »Mann Bussi.« Es ist das einzige Filmplakat, das sie kommentiert. Warum sagt sie nicht: »Frau Bussi«? Liegt es daran, daß auf dem Plakat der Mann als der Agierende gezeigt wird? Sie hat die Botschaft aufgenommen, daß handelndes Subjekt der Mann ist. Auf diese Weise bedarf es gar keines Sexualkundeunterrichtes mehr, in dem Geschlechtsrollen festgeschrieben werden. Kommen wir Frauen deshalb so schwer los von irgendwelchen dummen Geschlechtsklischees, trotz besseren Wissens, weil sie sich so einprägen wie laufen lernen, aufs Klo gehen und Knöpfe auf- und zumachen? So wird dann etwas zur »Natur«, zum »Wesen der Frau«. Das Kind unterscheidet in diesem Alter ja noch nicht zwischen dem, was nicht anders sein kann (zum Beispiel laufen lernen und anziehen), und dem, was sehr wohl auch anders aussehen könnte. Es orientiert sich am Vorgegebenen.
Annelis Aussage korrespondiert haargenau mit der auf dem Plakat gezeigten und auch sonst - bis auf Ausnahmen - herrschenden Realität.
16. Januar 1983 (1 Jahr, 5 Monate)
Wir gehen in Berlin beim Einkaufen die Hauptstraße entlang und kommen an einem Reisebüro vorbei, dessen Schaufenster mit großen Plakaten von Bikinischönheiten und halbnackten pseudoexotischen Frauen ausgestattet sind. Anneli bleibt ein bißchen stehen, schaut sich das alles an und konstatiert dann: »Frau nackig.«
Wir stehen an der Bushaltestelle neben einem Zeitungskiosk. Die üblichen Illustrierten und Heftchen mit halb und ganz nackten Frauen im Titelbild sind auch hier zu sehen. Anneli tobt um das Häuschen herum, bleibt auch stehen und schaut sich das an. Ihr Kommentar: »Frau nackig.« Wir fahren mit dem Bus zum Kudamm. Ecke Joachimsthaler Straße/Kudamm neben Wertheim ist ein Kino, das auf einer großen Fläche mit dem Bild von mehreren nackten jungen Mädchen in aufreizenden Posen für einen Film wirbt. Anneli schaut beim Busfahren natürlich zum Fenster hinaus und sieht auch dies. Wieder fällt ihr auf: »Mammi, Frau nak-kig.«
I. Februar 1983 (1 Jahr, 6 Monate)
Wir hatten in den letzten Wochen öfter einen Gottesdienst besucht, weil Anneli vom Gesang in der Kirche angezogen wurde und ihm nachgehen wollte. Beim Anblick einer Kirche kommt jetzt immer derselbe Kommentar in immer derselben Reihenfolge: »Jesale (= Jesuskind), Mann, Kinder singen, Mann, lala, Mann.« Mann ist bei ihr fester Bestandteil von Kirche, und ich verstehe jetzt aufgrund ihrer ständigen Wiederholungen der Wortreihenfolge, daß sie damit den Ablauf des Geschehens in der Kirche wiedergibt. Nach jedem Singen der Kinder kommt immer wieder der Mann, das heißt der Pfarrer zu Wort. Nach jedem Orgelspiel, nach jeder anderen Unterbrechung im Gottesdienst rückt doch immer wieder als die bestimmende Figur des ganzen Geschehens der Mann in den Mittelpunkt. Dies drückt sie mit der ständigen Wiederholung des Wortes »Mann« aus.
Nach dem nächsten Kirchenbesuch stellt sie dann schon fest: »Mann redet.«
In den letzten Monaten hat sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Anneli und dem vier Wochen jüngeren Schorschi entwickelt. Auch ich bin mit Christa, seiner Mutter, befreundet, und wir sind häufig mit den Kindern zusammen.
Natürlich ist die Beziehung zwischen den Kleinen nicht immer ungetrübt. Zwischendurch toben heiße Kämpfe, die sich dann aber wieder mit innigem Einander-um-den-Hals-Fallen abwechseln. Die Freundschaft mit Schorschi wird für Anneli in den nächsten Jahren ein wesentlicher Faktor in ihrer Sozialisation sein. Für mich ist Schorschi bei meinen Beobachtungen oft die männliche »Kontrollperson«. Wenn Anneli sich mit Schorschi streitet, wenn er haut oder sie schubst, brüllt sie lauthals: »Ossi ned, Hände weg.« Schorschi läßt sich davon aber nicht beeindrucken. Er setzt sein Spielchen fort und wird von uns Müttern auch nicht zurechtgewiesen und darauf aufmerksam gemacht, daß er Annelis Willen zu respektieren habe. Wir verhalten uns neutral, tendieren zu der Ansicht, sie soll sich selbst durchsetzen lernen.
Vielleicht
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