Typisch Mädchen
wieder: »Mann redet.« Als die Frau dann endlich auch einmal zu Worte kommt, also eine weibliche Stimme vom Fernsehgerät ertönt, wendet sich Anneli vom Spiel ab, sieht interessiert hin und sagt: »Frau redet.« Ich stelle fest, daß es für das Kind doch nicht einfach unterschiedsloses, geschlechtsunabhängiges Sprechen gibt, sondern daß Anneli genau Mann und Frau auseinanderzuhalten imstande ist.
Wir spazieren in Münchens Innenstadt. Auf einer Litfaßsäule wird groß für irgendeinen Film mit dem Bild einer halbnackten Frau geworben. Anneli stellt wieder mal fest: »Frau nak-kig.« Mir geht es mittlerweile schon ziemlich auf die Nerven, wie oft diese Feststellung von ihr getroffen wird. Aber offenbar hat sie diesen Aspekt des Lebens jetzt erkannt, Augen dafür bekommen und gibt die Wahrnehmung natürlich jedesmal an mich weiter. Ich bin wohl zu sehr daran gewöhnt, um jeden einzelnen Fall aufs neue zu registrieren. Abends findet eine Mitgliederversammlung des Vereins statt, dem ich angehöre. Es findet sich kein Babysitter, sie möchte auch mit. Ich muß hin, da ich Vorständin bin, also nehme ich sie mit. Natürlich kommen wir 15 Minuten zu spät. Ein Mann redet gerade, als wir kommen. Es dauert etwa fünf Minuten, bis er das Wort an mich weitergibt. Anneli flüstert mir in dieser Zeit ins Ohr: »Mann redet.« Daraufhin rede ich ein Weilchen, und dann geht es kunterbunt durcheinander. Als ich beim Heimgehen Anneli frage, ob ihr die Versammlung gefallen habe, sagt sie bloß: »Mann redet.« Ich bin wütend, weil in ihrer Vorstellung offenbar die fünfminütige Rede des Mannes bestimmend für die ganze Versammlung war. Mich bedrückt, daß ihr Wahrnehmungshorizont dafür, wie bei uns Frauen und Männer zusammenleben, sich auf die einfache Formel bringen läßt: »Frau nackig« - »Mann redet«.
»Mann nackig« hat sie nie gesagt und »Frau redet« lediglich einmal.
18. Februar 1983 (1 Jahr, 6 Monate)
Wir sind mit Schorschi und dessen Vater Schlittenfahren. Beide Kinder sind vom Rodeln nicht begeistert. Es ist ihnen zu kalt, zu ungemütlich, zu schnell, und ich habe den Eindruck, daß sie sich bewegungsbehindert fühlen. Kaum haben sie laufen gelernt und fühlen sich sicher, schon kommt eine neue Art der Fortbewegung in einem ungewohnt schnellen Tempo. Die Kinder verhalten sich dementsprechend zögernd und vorsichtig und steigen nicht freiwillig auf den Schlitten -andererseits schreien sie auch nicht. Schorschis Vater fragt nicht, erklärt nicht - er packt Schorschi rigoros mit festem Zugriff und setzt ihn nachdrücklich auf den Schlitten. Ohne weiteres Zögern oben auf dem Bergerl geht's mit starkem Schwung, den er vorher dem Schlitten noch versetzt, abwärts. Unten angekommen, legt er Schorschi sofort bäuchlings auf den Schlitten, um ihn besser raufziehen zu können. Nur mühsam kann Schorschi sich festhalten. Er ist sichtlich angestrengt, wird aber dazu nicht von seinem Vater befragt, der lediglich konstatiert, daß alles schrecklichen Spaß mache. Beim zweiten Mal wird Schorschi auch beim Runterrodeln auf den Bauch gelegt, und sein Vater legt sich drauf! Es geht alles genauso schnell wie vorher. Schorschi hat keine Chance zum Widerspruch, ganz im Gegenteil, in festem Ton, barsch aufmunternd, bestimmt der Vater: »Schorschi, gelle, das pak-ken wir schon!«
Ich dagegen: Wir bleiben erst mal ein Weilchen oben stehen, sehen uns das Bergerl an. Ich erkläre Anneli, wie schön es sei und daß rodeln allen anderen Kindern auch Spaß mache ¡frage sie, ob sie es jetzt auch versuchen möchte. Ich schmeichle ihr damit, daß sie doch auch schon so groß sei, und verspreche ihr, daß Mami sie festhalten werde. Dann setzen wir uns auf den Schlitten und rodeln in gemächlichem Tempo hinunter.
Ich unterhalte mich anschließend mit Schorschis Mutter über unser beider unterschiedliches Verhalten. Sie erklärt: »Tja, das habe ich auch schon bemerkt, daß mein Tonfall Anneli gegenüber anders ist als bei Schorschi.« Wir bezeichnen unser Verhalten gegenüber Anneli als zärtlich, schäkernd, schmusend, lieb, tröstend. Bei Schorschi finden wir unsere Sprache eher auffordernd, robust, abweisend, auf ihn selbst verweisend, bagatellisierend. Wer hätte das gedacht?
In letzter Zeit fällt mir immer häufiger die penetrante Frage von Unbekannten auf - auf der Straße, in Geschäften und im Bus -, ob Anneli ein Bub oder ein Mädchen sei. Seit vier Monaten kann sie erst laufen, und kein Kind wird auf diese Frage in diesem
Weitere Kostenlose Bücher