Typisch Mädchen
scheint auch heute noch die Tendenz vorzuherrschen, den allmonatlich wiederkehrenden Vorgang, der unsichtbar und unbemerkt (Werbung der Hygiene-Industrie) bleiben soll, als Schicksal zu begreifen; es wird erschwert, Sicherheit im eigenen Körpergefühl zu entwickeln, die wichtigster Bestandteil einer positiven Geschlechtsidentität ist.« 28
9. Januar 1984 (2Jahre, 5 Monate)
Das Weinen der Papis beschäftigt Anneli immer noch. Wir sitzen im Bus, da fragt sie völlig unvermittelt: »Können die Papis weinen?«
Ich bejahe wieder mal und frage zurück, warum sie denn glaube, daß die Papis nicht weinen können. Da kommt als Antwort: »Weil sie so groß sind.«
Ich gebe zur Antwort, daß Mamis ja auch groß sind; sie geht darauf überhaupt nicht ein und wiederholt ihre vorherige Feststellung.
Wir sind im KaDeWe in der Spielzeugabteilung; ich bleibe mit ihr vor einer aufgebauten Eisenbahnanlage (Plastik und nicht besonders toll) stehen und will sie zum Interesse daran motivieren. Nichts - im übrigen weiß ich auch nicht so recht, was daran gut sein soll, und bin gern bereit, ihr mangelndes Interesse daran zu verstehen; so gebe ich diesen Eisenbahnspielversuch schon nach wenigen Minuten auf; ich empfinde es eben auch als langweilig, immer nur aufs Knöpfchen zu drücken und zuzuschauen, wie das Ding rumsaust. Mir fällt auch nichts ein, das ich ihr zum Thema Plastikeisenbahn erzählen könnte, und deshalb ziehe ich sie weiter. Wir kommen zu einem Puppenhaus - Anneli ist hingerissen davon und spielt eine ganze Stunde allein, ohne meine Einmischung, mit den Gegenständen ihr alltägliches Leben durch. Mich langweilt es zwar auch, aber ich bleibe die ganze Zeit daneben sitzen und versuche sie durch nichts anderes von diesem Spiel wegzulocken oder zu unterbrechen.
10. Januar 1984 (2Jahre, 5 Monate)
Wieder einmal in Berlin, besuchen wir Isabell und ihre Kinder. Es werden Erlebnisse vom vergangenen Weihnachtsfest ausgetauscht.
Isabell erzählt von Bens innigstem Weihnachtswunsch, nämlich zu Heiligabend wie alle anderen in der Familie auch ein Kleid oder einen Rock anziehen zu dürfen. Das zu tun war ihm bisher von Isabell versagt worden. Aber nun zu Weihnachten mochte er endgültig nicht mehr der Außenseiter sein. Er wollte die Kleidung tragen, die die dominierenden Personen seiner Umgebung auch trugen - die Mutter, die älteren Schwestern. Zwar leistete Isabell auch jetzt noch Widerstand, wie sie lachend erzählt, aber weil es Ben gar so wichtig erschien, durfte er dann doch. Es war ja Weihnachten, und schließlich blieb alles im engsten Familienkreise. Befragt, warum sie denn so lange den Kleiderwunsch boykottiert habe und es ihr so schwergefallen sei, Bens Wunsch zu erfüllen, meint sie dazu: »Stell dir mal den Konflikt vor, in den ich Ben stürze, wenn ich ihn außerhalb der Familie in Mädchenklamotten herumlaufen lasse. Das ist dann wie mit seinen Haarklammern und den lackierten Fingernägeln. Er wird bloß ausgelacht, verletzt und dadurch so verunsichert, daß er ganz geschlechtsverwirrt wird und womöglich irgendwelche psychischen Schäden davonträgt. Und das will ich ja nun wirklich nicht - obwohl ich persönlich ja auch nichts dabei finde, wenn ein Junge in Rock oder Kleid geht.«
Mir scheint, als hinge die Geschlechtsverwirrung des Buben in erster Linie von der Reaktion der Umwelt ab und weniger von der Kleidung an sich.
Warum wird bei einem Mädchen, das Hosen angezogen bekommt, eigentlich nicht Geschlechtsverwirrung befürchtet? Wohl, weil es damit zum einen aufgewertet wird und zum anderen eine Verwirrung des Mädchens, unterstellen wir sie einmal, offenbar nicht zählt.
Liegt es auch daran, daß die Gesellschaft insgesamt und Frauen im besonderen von psychischen Schäden, die bei Männern auftreten, mehr zu befürchten haben, da deren Auswirkungen verheerend sein können? 29 Seit Phyllis Chesler 30 wissen wir, wie schnell Frauen bei Anzeichen von »unweiblichem« Verhalten in der Psychiatrie verschwinden und damit für die Gesellschaft nicht mehr gefährlich oder schädlich sind. Im Gegensatz zu Männern. Sind die Mütter aus Erfahrung und tiefer unbewußter Angst vor der Tyrannei fehlgesteuerter Männlichkeit bei ihren kleinen Söhnen wesentlich sensibler und besorgter als bei den kleinen Mädchen?
13. Januar 1984 (2Jahre, 5 Monate)
Wir sind abends bei Jürgen eingeladen. Er erzählt Anneli, daß er mittags Erbsen mit Kartoffeln (ihre Leibspeise) gegessen habe; sie solle raten, wer die gekocht
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