Typisch Mädchen
nicht selbst in die Hand genommen habe. War ich zu faul? Nein, ich war einfach gedankenlos ! Wie soll die Tochter da von selbst zum Werkzeug greifen, es für sich als eine Selbstverständlichkeit ansehen?
20. Januar 1984 (2Jahre, 5 Monate)
Wieder in München, packen wir aus. Oma ist da. Aus Annelis Spielzeugkiste fällt der kleine Schraubenzieher, den ich ihr gekauft hatte. Oma sagt: »Ja, hast du den Schraubenzieher von Papa dabei gehabt?«
Es ist klar, Schraubenzieher können immer nur dem Papa zugeordnet sein, wenn sonst kein »Mann« im Haus ist. Garantiert hätte sie bei einem männlichen Enkel gesagt: »Ja, hast du sogar deinen Schraubenzieher dabei gehabt, was hast du denn in Berlin repariert?« Aber bei einem Mädchen kann der Schraubenzieher ja nur dem Papa gehören und niemals für es selbst in Frage kommen. Ich antworte ganz schnell: »Nein, der gehört ihr.« Anneli selbst sagt nichts, obwohl sie sonst schon eigentumsbewußt ist. Ich weiß nicht, ob sie meine Bemerkung überhaupt noch wahrgenommen hat.
21. Januar 1984 (2Jahre, 5 Monate)
Anneli, ihr Busenfreund Schorschi und ich sind zum Nachmittagskaffee bei Hannelore eingeladen. Die Gastgeberin ist eine 35jährige Kindergärtnerin, politisch aufgeschlossen und insgesamt kritisch eingestellt. Sie möchte es bei ihren beiden Söhnen (vier und zehn Jahre alt) anders machen und ist sich sicher, sie nicht zu Männern zu erziehen. Wir sitzen am Tisch, unterhalten uns; die Kinder spielen mit noch einigen anderen Spielgefährten des jüngeren Sohnes am Boden mit einer Unmenge von Duplo- und Legobausteinen. Es herrscht Friede. Hannelore beginnt im Gespräch zu schwärmen, wie nett es gewesen wäre, statt zweier Söhne noch ein Mädchen gehabt zu haben. »Schau doch nur an, wie nett und lieb so ein kleines Mädi ist.« Und da beugt sie sich zu Anneli hinunter, nimmt sie aus dem Spiel heraus auf ihren Arm und beginnt sie abzuküssen. Anneli schaut verwundert zwischen Hannelore und den Bauklötzen hin und her. Da legt Hannelore los: »Meine Süße, siehst du aber nett aus mit deinen Locken.« - Hannelores Stimme ist in hohen Singsang umgeschlagen. »Frisierst du dich denn auch schon alleine?«
Anneli antwortet brav mit »Ja« - obwohl es überhaupt nicht den Tatsachen entspricht; aber sie weiß, was von ihr verlangt wird, und darum fährt sie fort: »Ich habe auch einen Spiegel, und dann mach ich so und so.« Sie fährt sich mit den Fingern wild durch die Haare und um den Kopf - ihre Art, sich zu frisieren.
Hannelore ist entzückt und fragt weiter, ob sie denn auch ihre Puppen frisiere, wie die heißen, ob sie groß oder klein seien. Dann stellt sie wieder fest, wie süß Anneli sei. In der Zwischenzeit haben die Buben am Boden ihr Spiel ununterbrochen weiter fortgesetzt.
Hannelore läßt Anneli vom Arm, setzt sie wieder auf den Boden. Aber jetzt gibt es Schwierigkeiten mit den Buben; sie wollen nicht mehr, daß Anneli sich wieder Bauklötze nimmt, und es gibt Streit. Um größeres Geschrei zu vermeiden, nimmt Hannelore Anneli mit den Worten »meine süße Kleine« wieder auf den Schoß. Da bleibt sie dann, dem Spiel der Buben entzogen, und wird mit Schokoladekuchen entschädigt, den sie von Hannelores Teller essen darf. Die Buben stopfen sich den Kuchen in den Mund und setzen sich wieder auf den Boden zum Spiel.
Das ganze Treffen wird ins Wohnzimmer verlegt - wo viel Platz ist. Es beginnt eine Rauferei. Hannelore schnappt sich wieder einmal Anneli mit der Bemerkung: »Komm, Süße, laß die mal raufen.«
Beim Abschied wird Anneli noch mal mit Küssen überhäuft. Schorschi klopft sie auf die Schulter und sagt ein fröhliches, aufmunterndes Tschüs.
Ich bin mit Schorschi und Anneli unterwegs, um einigen Bekanntinnen Einladungen für eine Veranstaltung zu bringen. Die Tür öffnet sich bei Ingrid, einer Lehrerin, die von ihrem pädagogischen Ansatz her sich selbst als sehr progressiv einschätzt. Vor mir stehen Anneli und Schorschi. Beide sind in ihren Schneeanzügen mit strahlenden blauen Augen und lachenden Gesichtern sehr herzig anzusehen. Ingrid sagt uns freundlich guten Tag, und wir unterhalten uns kurz. Dann wendet sie sich an die Kinder: »Na, Schorschi, daß ich dich auch mal wieder sehe. Gehst du denn jetzt auch fleißig Schlitten fahren?«
Der Ton ist munter bis sachlich. Die Höhe der Stimme unverändert. Jetzt beugt sie sich zu Anneli herab, lächelt ihr intensiv zu, nimmt sie auf den Arm und sagt: »Ach, du kleine Süße, siehst du aber
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