Typisch Mädchen
Buchladen mit zwei anderen Kindern an. Jetzt verstehe ich. Ist es nicht interessant, wie schnell eine Geschichte aus einem Buch wirken kann und wie sich die Inhalte bei den Kindern festsetzen? Es kommt also offenbar doch darauf an, welche Bücher und Geschichten den Kindern nahegebracht werden; es ist keine harmlose Nebensache.
8. Januar 1984 (2Jahre, 5 Monate)
Mir fällt an Annelis Sprache auf, daß sie grundsätzlich nur männliche Possessivpronomina gebraucht. Warum hat sie denn nicht genau umgekehrt nur weibliche Pronomina zu gebrauchen gelernt - so frage ich mich und erhalte von der Linguistin Senta Trömel-Plötz die klare Antwort, Anneli habe eben jetzt das System der männlichen Dominanz in der deutschen Sprache verinnerlicht. (Sie sagt: »Der Anneli seine Mami« usw.) So früh geht das also schon! Ich hatte meine Monatsblutung, und da Anneli immer aufs Klo mitmarschiert, hat sie natürlich auch Blut gesehen. Abends gehe ich mit einer Freundin zum Squash-Spielen; Anneli ist dabei und verkündet nach dem Spiel, als wir im Gästeraum zusammensitzen, lauthals: »Sophie, die Mami ist ein Faki (Bezeichnung in Bayern für ein Ferkel), weil sie Blut in der Hose hat.«
Sophie, die in mancher Beziehung etwas genierlich ist, wird puterrot und blickt sich sofort nach den herumsitzenden Männern um, ob die das mitgekriegt haben. Ich schwanke zwischen Entsetzen, dem Verbot, so etwas zu sagen, und Lachen wegen der absoluten Richtigkeit ihrer Aussage. Aber auch ich blicke mich etwas unsicher um und versuche gleich über das Thema hinwegzugehen. Ich bin mir sicher, daß An-neli unsere Geniertheit mitbekommen hat. Mir geht es im übrigen zu Hause ziemlich auf die Nerven, daß ich auch nicht in den Tagen der Blutung ungestört auf dem Klo sitzen und Tampons oder Binden benutzen kann, ohne daß ich ständig Fragen nach meinem Blut am Popo beantworten muß. Ich empfinde es als einen Einbruch in meine aller-intimste Sphäre; manchmal muß ich mich zu der Ungeniertheit, die Anneli aufbringt, überreden, es rationalisieren, daß doch eigentlich nichts dabei ist, wenn sie zusieht. In diesem Sinne versuche ich Anneli zu erklären, daß alle Frauen manchmal bluten und daß das nicht schlimm ist, sondern ganz normal. Nach dieser Squash-Geschichte allerdings beginne ich jetzt mehr und mehr meine Toilettenbesuche so einzurichten, daß sie abgelenkt ist oder daß sie nichts sieht; ich bilde mir ein, den Tampon so schnell und geschickt zu benutzen, daß Anneli nichts davon bemerkt hat. Doch dann überrascht mich die Frage, ob das denn jetzt stichele und weh tue. Ich verneine und erklär ihr, es sei wie Babylax (ein Babyklistier). Das hat sie nämlich in guter Erinnerung wegen der Verbindung von Schokolade, Verstopfung und Erleichterung. Trotz meiner Heimlichtuerei entging ihr also nichts. Ich bin mir sicher, daß sie aber gerade das Heimliche meiner Aktion wahrgenommen hat. Abends beim Baden fummelt sie mit dem Schnuller an ihrem »Loch« (wie sie es selbst bezeichnet) und sagt: »Wie die Mami.« Vor einem halben Jahr spielte sie das auch schon einmal. Sie hat offenbar ein ganz unbefangenes Verhältnis dazu, im Gegensatz zu mir. Tabuisiere ich diesen Bereich mit meiner Verschämtheit nicht eigentlich? Ich bin dabei, die gleichen Hemmungen, die ich unausgesprochen - gerade durch das Nichtexistieren dieses Themas - von meiner Mutter mitbekommen habe, weiterzugeben. In meinem Elternhaus ging es nicht verklemmt zu, aber dieses Thema war einfach nicht existent. Ich weiß nur, wie meine Mutter schweigend und schnell mit Watte und Binden hantierte; ich erinnere mich auch, gerade jetzt, wie ich ganz besonders die Verschämtheit dieser Handgriffe mitbekam und verstand, daß da etwas im Gange war, über das nicht gesprochen wurde und das die Familie nicht sehen sollte. Daher also unsere eigene Scham - auch gegenüber Männern - vor unserem Blut. So kommt es, daß sich das pubertierende Mädchen für etwas geniert, das es noch nie gesehen und zu dem ihm vor allem auch nie eine Person ausdrücklich gesagt hatte, daß es sich deswegen schämen müsse. Und trotzdem tut sie es, und nicht nur die Pubertierende, nein die Frau, ihr ganzes Leben lang!
Nie im Leben hätte ich geglaubt, daß ich so eine Botschaft an meine Tochter weitergeben würde. Ich hätte es aufs heftigste abgestritten - und trotzdem ist es mir jetzt passiert. Ich konnte nicht so einfach über meinen Schatten springen. Im »6. Jugendbericht« wurde dazu folgendes festgestellt: »Es
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