Typisch Mädchen
seinen Arm anwinkelt und zu ihr sagt: »Schau mal, meine Muskeln.« Er hat dabei ein für mein Empfinden widerlich männliches, unterschwellig bedrohliches Dominanzgehabe an sich.
Ich schalte mich sofort ein, ohne Annelis Reaktion abzuwarten, und sage ihm, daß auch Anneli große Muskeln habe. Auf meine Aufforderung hin zeigt sie »Bizeps«. Der Bub sagt nichts mehr und geht. Anneli stellt fest: »Gell, Mami, ich hab auch Muskeln.« Ich bejahe. Der Bub wendet sich an ein anderes Mädchen mit der gleichen Tour. Diese sieht ihn groß an und sagt nichts. Da tritt deren Mutter und noch eine Gästin hinzu, und nun bewundern zwei erwachsene Frauen die Stärke des Vierjährigen, obwohl sich seine Muskeln natürlich in nichts von -denen des danebenstehenden gleichaltrigen Mädchens unterscheiden. Die Welt ist für den Buben wieder in Ordnung, und die Mädchen haben doch noch ihre Lektion gelernt.
Zwei Minuten später betritt die Gastgeberin den Raum und fragt lautstark nach einem »starken Mann«, der ihr eine heruntergefallene Vorhangstange wieder befestigen könne. Das hat aber doch gar nichts mit Stärke zu tun, sondern lediglich mit Arbeit! Ich frage mich, was meine »Muskel-Gleichheits-Pädagogik« von eben nützt, wenn ich von der krassen Wirklichkeit eingeholt werde und Stärke von mehreren Frauen laut und deutlich nur einem Mann, gleich ob klein oder groß, zugeordnet wird?
Einer der Buben nimmt Anneli eine kleine Zuckerfigur weg, die ihr die Gastgeberin kurz zuvor geschenkt hatte. Anneli schreit und will sie ihm wieder abnehmen; beinahe gelingt es ihr, da nimmt der Bub das Ding schnell in den Mund. Anneli heult wutentbrannt auf. Die Eltern des Buben stehen daneben und schauen zu; dann fordern sie Anneli auf, das nächste Mal aufzupassen und schneller zu sein. Kein Wort zu dem Buben, der die Figur wirklich in böser Absicht wegnahm, und keine Ermahnung, daß er das nicht tun dürfe. Wieder ergeht die Aufforderung zur Verhaltensänderung an das Mädchen. Sogar bei gewalttätigen Handlungen des Buben, bei denen er nicht im Recht ist, wird das Mädchen aufgefordert, durch sein Verhalten dessen Handlung zu verhindern. Es kommt mir vor wie in den Vergewaltigungsprozessen. Immer ist die Frau schuld. Sie hätte früh genug sein gewaltsames Handeln voraussehen und sich darauf einrichten müssen. Er kann tun und lassen, was er will, immer hat das Mädchen zu reagieren.
Bei der Verabschiedung stelle ich an den anderen Frauen fest, in welch unterschiedlicher Stimmlage und Wortwahl sie sich von den Buben und Mädchen verabschieden. Bei ersteren ist der Ton fest, laut, aufmunternd, forsch, verbunden mit einem festen Händegriff oder Klaps; bei den Mädchen heißt es mit hoher, zarter Stimme in mildem Ton: »Pfüad di, du Kleine« oder »Na, Wiedersehen, du Lockenköpfchen« oder »du Trutscherl«.
5. März 1984 (2Jahre, 7Monate)
Wir sind in einem Haus mit zwei Buben zu Besuch. Es wimmelt im ganzen Zimmer von Duplobausteinen mit den entsprechenden Kränen, Baggern, und Anneli will damit spielen. Obwohl eine Menge davon herumliegt, will Sebastian (vier Jahre alt) genau die Steine, die Anneli hat, und versucht, sie ihr wegzunehmen. Sie versucht, sich heftig zu wehren, natürlich gelingt es ihr nicht, weil Sebastian schon wegen seiner Größe der Stärkere ist. Wir Mütter sehen zu. Erst als Sebastian den Kampf schon für sich entschieden hat und Anneli aufheult, mischt sich Sebastians Mutter ein und gibt Anneli die Steine. Die Verhandlungen zwischen Mutter und Sohn dauern allerdings eine Weile, und Anneli hat das Interesse an den Duplosteinen in der Zwischenzeit verloren. Sie will sie nicht mehr, als sie ihr gegeben werden, und wendet sich einem Korbwägelchen mit Puppen zu, das einzige Spielzeug außer Duplosteinen. Sie spielt jetzt Mami und Baby, und Sebastians Mutter stellt fest, daß sie damit ruhig und ungestört spielen könne, denn das interessiere Sebastian nicht. In der Tat ist es so.
Wieder hat das Mädchen reagiert, sich etwas anderes suchen müssen als das, was für den Buben von Interesse ist; wieder konnte der Bub erst einmal ungestört seine Dominanz aus-leben. Ist es erstaunlich, daß sie sich dann nicht mehr für Du-plos interessierte, sondern eben für das, was übrigblieb ? Spiegelbild unserer Wirklichkeit. Daß wir damit auch noch zufrieden sind, haben wir ja frühzeitig gelernt! Einige Zeit später sehe ich auf einem Markt ein sehr hübsches Korbwägelchen, dem von Sebastian ähnlich. Ich bin spontan
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