Typisch Mädchen
aufhören. Aber Sophie ist noch ganz bei der Sache, und ich empfinde einen Druck, weiterzuraufen, um Anneli nach den von ihr häufig gesehenen Vater-Sohn-Raufspielen zu demonstrieren, daß dies nicht nur Väter und Buben können. Warum muß ich ihr das eigentlich demonstrieren? Weil sie sich zu wenig bei Angriffen auf dem Spielplatz wehrt und weil ich denke, sie könne durch das Beispiel eher Hemmungen abbauen und auch einmal zurückschlagen. Warum muß Anneli aber unbedingt das Zurückschlagen lernen? Viele Söhne-Mütter stellen diese Forderung in vielen Spielgruppen, auf vielen Spielplätzen und in vielen Kindergärten auf. In Kinderstreitigkeiten darf frau sich nicht einmischen, »das müssen die Kinder selbst unter sich austragen, und schließlich müssen auch die Mädchen lernen, sich gegen die Buben zu wehren«. Wie sollen sie das aber mit der schönen Selbstverständlichkeit wie die Buben machen, die schon oft mit ihren Vätern rauften, wenn sie nirgends Frauen schlagen und angreifen sehen. Also muß ich ihr das vormachen.
Ich halte mich für besonders schlau. Ich denke nicht daran, daß ich sie nur lehre, sich männlichem Verhalten anzupassen, es nachzuäffen.
Etwas später setzt sie sich meine Sonnenbrille, die sie sich aus einer Schublade hervorholte, auf, stellt sich breitbeinig - soweit es eben geht - vor mich hin und stellt fest: »Jetzt bin ich ein Mann.«
Zuerst verstehe ich nicht, dann blättere ich in diesen Aufzeichnungen nach, und was finde ich? Eine Eintragung vom 16. September 1983 über den ungeheuren Eindruck, den ihr der Busfahrer im Engadin mit seiner Sonnenbrille gemacht hat. Der Busfahrer war natürlich ein Mann! Ich staune, wie wenig es braucht bei Kindern, um aufgrund des Aussehens zu Geschlechtseinteilungen zu kommen.
14. März 1984 (2Jahre, 7Monate)
Ich bin ohne Anneli in meiner Wohnung in Berlin. Es ist Besuch da; eine 37jährige aufgeschlossene Frau mit Sohn Nik, fünf Jahre alt, und Tochter Hanna, drei Jahre alt. Ich höre eines Morgens von meinem Zimmer aus, wie Gisela, die Mutter, Hanna zum Frisieren und zu Zöpfchen mit Haarklammer überreden will. Hanna schreit und protestiert gewaltig. Es geht einige Zeit hin und her, bis Gisela argumentiert, daß Oma diese Frisur aber gefalle, und da sie Oma jetzt besuchen würden, wäre es sehr lieb von ihr, wenn sie sich so frisieren ließe; außerdem sähe es sehr hübsch und niedlich aus; und im übrigen sei doch das Haarspangerl auch ganz besonders schön. Hanna gibt nach und läßt sich die von der Mutter bzw. Oma gewünschte Frisur machen, wenn auch unter Wehklagen! Nik, der Bruder von Hanna, blieb unbehelligt mit seinen Haaren. Er mußte nichts tun und nicht lieb sein, um jemandem zu gefallen.
Sigmund Freud meint zum Schmuckbedürfnis der Mädchen: »Ich nehme an, daß das kleine Mädchen, das seine Genitalien mit denen des kleinen Jungen vergleicht, ihre eigenen häßlich findet. Nicht nur die größere Bescheidenheit der Frauen, auch ihr nie endendes Streben nach Verschönerung und Schmückung des Körpers kann man als Verschiebung und Ausweitung ihres Bemühens erkennen, den ursprünglichen Eindruck überzukompensieren, daß ihre Genitalien häßlich sind.« 37
Während des Frühstücks entspinnt sich ein Gespräch darüber, was Gisela mit den Kindern in Berlin alles machen werde. Dabei sagt sie: »Ins Verkehrsmuseum wollen wir auch, das muß wegen Nik sein, denn das ist für den bestimmt interessant und aufregend. Da muß halt dann Hanna auch mitgehen. So muß für jedes Kind etwas sein, damit es auf seifte Kosten kommt.«
Wieso unterstellt sie, daß die dreijährige Hanna das nicht interessieren könnte? Ich bin überzeugt, daß sie allein aufgrund dieser Implikation im Museum sich weniger mit Hanna beschäftigen wird als mit Nik. Ist es auch hier so, wie ich es bei mir feststellte: was die Mutter für sich selbst nicht sehr spannend findet, ist auch für die Tochter im Grunde genommen nichts? Wenn dann wegen des männlichen Geschwisters das weibliche Kind an der Unternehmung doch teilnimmt, wird vorher rechtzeitig noch betont, daß dies jetzt etwas für den Bruder sei. Entsprechend weniger fühlt sich das Mädchen angesprochen.
Hanna kommt zu mir ins Zimmer und zeigt mir eine sehr kleine Babypuppe. Sie erzählt: »Das Baby hat mir die Mama fürs Zugfahren geschenkt - und haben im Zug die Jacke fürs Puppi gestrickt - damit's nicht friert.« Tatsächlich, die Puppe war von Kopf bis Fuß mit winzigen Kleidungsstücken
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