Typisch Mädchen
Spaß, aber Anneli ist sehr eingeschüchtert und empfindet es als Bedrohung. Sie zieht ihren Kopf ein, hält schützend den Arm über ihren Kopf und schreit verzweifelt. Vielleicht hat sie noch zu sehr die Kränkung durch ihren kaputten Schneemann in der Seele, um den Spaß zu verstehen. Ich gehe auf sie zu, drücke ihr ebenfalls ein Tuch in die Hand und wedle mit ihr gemeinsam vor Schorschis Gesicht herum; jetzt kapiert sie es und beruhigt sich. Aber das Spiel des Drohens macht ihr keinen Spaß, im übrigen fürchtet sich Schorschi auch nicht. Aber in dieser Situation lief für mich wieder dieses »Atmosphärische« zugunsten des Männlichen ab. Anneli wurde dazu angehalten, zu reagieren, zu verstehen, etwas zu tun. Auf Schorschi ging keine der beiden Mütter zu, um ihm sein Verhalten zu untersagen, weil Anneli sich fürchtete. Sein objektives Verhalten drückte tatsächlich Gewalt aus - der wir nicht Einhalt geboten. Bei Anneli muß der Gedankengang entstehen, daß er das eben darf, daß das so ist. Eigentlich klar, daß dann bei einem Mädchen - und später bei der Frau - das Gefühl der Ohnmacht hinzukommt, wenn uns keine anderen Reaktionsmuster gezeigt werden, als gleiches Verhalten zu üben, das andererseits gesellschaftlich sonst für uns gar nicht üblich und vorgesehen ist. Das Mädchen beginnt hier bereits an einem der gesellschaftlichen Widersprüche zwischen realitätsgerechtem Verhalten und erwartetem weiblichen Verhalten nach einem imaginären Ideal zu leiden,
Ich besuche kurz Christa, um ihr etwas zu bringen. Es sind Gäste da, und wir trinken zusammen eine Tasse Kaffee. Natürlich dreht sich das Gespräch um die Kinder. Wie groß, wie dick, wie klug, wie lustig. Anneli und Schorschi werden ausgiebig durchgesprochen. Da stellt Christas Schwager fest: »Der Schorschi hat so ganz weiche Gesichtszüge, der sieht ja wirklich fast wie ein Mädchen aus. Das ist aber nicht gut für seine Zukunft, wenn er so weich ist und womöglich für ein Mädchen gehalten wird.«
Welches Bild wird hier in einen Zweieinhalbjährigen hinein-projiziert! Ist es ein Wunder, wenn Menschen, die solche Aussagen treffen, Kinder ihrem Geschlecht entsprechend unterschiedlich behandeln und kindliches Verhalten verschieden interpretieren?
14. Februar 1984 (2Jahre, 6 Monate)
Wir sind nachmittags in der Stadt, und Anneli wird von mehreren Leuten, trotz ihrer von den Söhne-Müttern so bezeichneten Mädchenmütze, immer wieder als Bub angesprochen. Beim Nachdenken finde ich die Verbindung zur Sprache. Auf einmal sind meine Sinne auch hier geweckt und ich verstehe den Zusammenhang.
Die Aufmerksamkeit eines jeden Menschen in unserer Gesellschaft ist a priori auf einen Mann eingestellt, wie in der Spräche erst einmal alles sich männlich definiert. 34 Es ist wie bei dem Begriff »man«, der ja auch Frauen mitmeint. Das Männliche gibt den Ton an, definiert. Deshalb haben es die Leute erst einmal bei einem Kind, das relativ geschlechtsneutral angezogen ist, mit einem Buben zu tun. Und erst bei einer Korrektur durch das Kind oder beim gefrorenen Lächeln seitens der Mutter wird höflichkeitshalber nachgefragt, ob es denn eventuell auch ein Mädchen sein könne. Das hört sich dann so an: »Bist du vielleicht gar ein Madl?« Die Abweichung von dem von vornherein Angenommenen muß erst gegenüber fremden Personen herausgestellt werden. Beim Kind muß sich so der Eindruck festsetzen, ein Mädchen zu sein sei etwas anderes, etwas, das eigentlich gar nicht erwartet wird - die Abweichung vom Normalen.
Wir sind in München in der Stadt und sehen uns die Auslage einer Buchhandlung an. Im untersten Regal, gerade auf Augenhöhe der Kinder, sind Kinderbücher ausgestellt, drei nebeneinander mit den Titeln: »Ich bin der Arzt«, »Ich bin der Fischer«, »Ich bin der Koch«. Den Buchdeckel zieren die Bilder von jeweils einem kleinen Buben, der selbstbewußt lachend im Berufskostüm des Arztes, des Fischers und des Koches dasteht. Kein Mädchen ist auf den Büchern zu sehen. Anneli schaut sich das an und fragt: »Was machen denn die Buben?« Ich bin wieder entsetzt über diesen Sexismus und erzähle Anneli ganz bewußt nicht davon, daß das Berufe seien, sondern daß die Buben einfach die Tätigkeiten mal so spielen und daß wir das zu Hause dann auch täten. Kann ich wirklich nur mit »Verfälschung« der Wirklichkeit meiner Tochter den Weg zu allen Berufen offenhalten? Ich denke nach: Kennt Anneli überhaupt eine Ärztin, hat sie denn schon mal
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