Typisch Mädchen
bestrickt.
Jetzt kommt auch Nik und zeigt mir stolz, was er für die lange Bahnfahrt bekam: ein Kästchen Lego-Steine mit Auto. Abends unterhalte ich mich mit Gisela über Kinder, Erziehung usw. und frage sie so nebenbei, ob sie aufgrund ihrer Erfahrung geschlechtsspezifische Tendenzen bei den Kindern feststellen könne und inwieweit sie glaube, daß das von der Erziehung abhänge; Sie verneint erst einmal, daß sie ihre Kinder unterschiedlich erziehe, bei ihr gäbe es keine Buben- bzw. Mädchen-Erziehung, daß sie aber ganz deutlich angeborene Unterschiede festgestellt habe: zum Beispiel das enorme Schmuckbedürfnis des Mädchens und das Interesse für Technik bei Nik.
15. März 1984 (2Jahre, 7Monate)
Meine Freundin Angela und ich sprechen ausführlich davon, daß Anneli am Computer ihres Freundes mit ihm zusammen Computerbilder malen solle. Wir wollen sie daran spielen lassen.
Etwas später unterhalten wir uns darüber, daß Angela sich seit kurzem mit Computertechnik beschäftige und die Bedienung eines solchen Geräts lerne. Davon ist einige Zeit die Rede, bis Angela plötzlich strahlend feststellt, daß sie selbst und nicht ihr Freund mit Anneli am Computer spielen werde.
Wie lange dauert es eigentlich, bis zwei erwachsene Frauen, die sich selbst für emanzipiert halten, merken, daß sie sofort auf den Mann zurückgreifen und diesem die Kompetenz zusprechen, statt selbst dem Kind die Dinge, die sie beherrschen, zu zeigen? Nur so kann sich doch im Kopf des Kindes eine andere Vorstellungswelt durch das Beispiel bilden. Wir Frauen müssen uns selbst kontrollieren, verändern und zur Tat schreiten. Da die männlich dominierten technologischen Verhältnisse sich ständig erneuern und erweitern, wie das Beispiel Computertechnik zeigt, setzt sich damit die männliche Hegemonie über uns ständig fort. Auch die Entwicklung der Technologie muß als ein Bestandteil der geschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen und seiner Wertigkeiten verstanden werden. Nur durch ihre Teilhabe daran werden Mädchen und Frauen jemals die Chance haben, verändernd einzuwirken, und sei es vorerst nur einmal auf die Weise, daß sich das Patriarchat in der Industrie auf größere Identifikation der Mädchen mit der Technik, zum Beispiel durch Bereitstellung von Arbeitsplätzen, einzustellen hat. 38
Wem fällt bei diesem Gedankengang wieder einmal die Aufgabe zu, die Zukunft durch eigene Verhaltensänderung zu ändern? Ich sehne mich nach dem Appell an die kleinen Buben und an die Männer, die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts dadurch zu verringern, daß deren Energien und Interessen von der Technik abgelenkt und mehr dem Erlernen der menschlichen Fähigkeiten zugewandt werden, die bisher Frauen allein zugeschrieben wurden.
16. März 1984 (2Jahre, 7Monate)
Nachmittags beim Mutter-Kind-Turnen tanzt Anneli einige Sirtaki-ähnliche Schritte. Zwei Buben tapsen neben ihr auf der Matte schwerfällig hin und her und versuchen, sie zu imitieren, ohne es ihr gleichtun zu können. Kommentar der Söhne-Mütter: »Da sieht man halt wieder, daß die Buben zwar größer (wieder wird ganz allgemein vor den Kindern festgestellt, daß Buben größer sind!) und kräftiger sind, aber dafür halt auch ein bißl tolpatschiger als die Mädchen.« Die Frauen führten es, ohne nachzudenken oder nachzufragen, schlicht und einfach auf das Geschlecht zurück. Damit hat sich das Problem erledigt; etwas, das Mädchen können und Buben nicht, ist für die Buben auch nicht erlernbar, es liegt einfach am unterschiedlichen Geschlecht. Die Buben bleiben so, wie sie sind - sie werden nicht zur Nachahmung der Mädchen angehalten.
Anneli konnte es, weil ich mit ihr viel aus Freude tanze und weil sie es in einer Musikspielgruppe lernte. Ich mischte mich übrigens nicht ein und animierte auch keinen der Buben zur Nachahmung.
17. März 1984 (2Jahre, 7Monate)
Ich habe ein Buch aus den 50er Jahren vom Däumelinchen gekauft, und wir sehen es zusammen an. Das erste Bild zeigt eine Hexe, die als weise Frau dargestellt ist und einer jungen Frau ein Gerstenkorn gibt, aus dem dann Däumelinchen wird. Ich bin sehr erleichtert, daß ich damit das erste Mal in einem Kinderbuch einer positiven Darstellung der Hexe begegne, die der historischen Wahrheit entspricht, so wie ich sie Anneli immer zu vermitteln versuche. Wie rar sind doch diese Texte und Bilder, in denen kleinen Mädchen etwas Positives über alte Frauen und Hexen vermittelt wird.
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