Typisch Mädchen
Mädchen singen: »Ich bin die kleine Barbara und habe große Angst«?
7. April 1984 (2Jahre, 8 Monate)
Morgens beim Anziehen sehe ich zufällig in der Kommode einen Rock liegen, den Anneli vor längerem geschenkt bekam. Ich ziehe ihr den Rock an. Sie sieht sehr lieb und niedlich darin aus, und sie selbst gefällt sich auch gut. Den ganzen Tag über bemerke ich an mir selbst, wie anders sie heute auf mich wirkt — ohne Hosen. Sie ist inzwischen ein hübsches, kleines Mädchen geworden, mit dem ich alle Gefühle verbinde, die typischerweise weiblichen Wesen zugesprochen werden: Hilflosigkeit, Schwäche, Schutzbedürftigkeit und Liebsein. Ich will sie beim Einkaufen und beim Spaziergang immer an die Hand nehmen, was sonst nicht meine Gewohnheit ist. Häufiger als sonst ziehe ich sie zu mir, um sie in meine Arme zu schließen und mir ein Bussi von ihr zu holen. Ich weiß jetzt ganz sicher, daß geschlechtsspezifische Kleidung in der Interaktion von Kindern und Erwachsenen von Bedeutung ist.
Nachmittags sind wir zu Besuch bei einem fünf Monate jüngeren Kind, einem Buben. Auch hier wird wieder mit den Worten »Sei ein Kavalier« an die Höflichkeit des Buben appelliert, als es zum Streit wegen weggenommenen Spielzeugs kommt.
9. April 1984 (2Jahre, 8 Monate)
Anneli war vor einigen Tagen bei Claudia (sieben Jahre alt) und ihren Freundinnen. Heute verlangt sie plötzlich, Klammern ins Haar gesteckt zu bekommen, und ich soll ihr zwei Zöpfchen flechten. Sie will ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit oft frisiert werden und ist ängstlich darauf bedacht, die Frisur nicht kaputtzumachen. Sie blickt deshalb häufig in den Spiegel und ist außer sich, wenn sie eines dieser Spangerl nicht mehr sieht.
Ich nehme an, daß das vom Spiel mit Claudia herrührt. Ich hatte bisher noch völlig übersehen, welchen Einfluß ältere Kinder, die natürlich schon viel rollengeprägter sind, auf die Kleinen in dieser Beziehung haben.
Oma ist da. In der abendlichen Unterhaltung bemerkt sie nebenbei, daß sie Anneli ein Puppenbuggy schenken will. Klaus lehnt ab, weil er befürchtet, daß dann noch mehr mit Puppen gespielt wird. Oma wendet sich an mich und sagt: »Also ihr werdet doch aus dem Mädchen nicht einen Buben machen wollen? Schließlich sollen Mädchen mit Puppen spielen, und dazu gehört ein Kinderwagen; das kann man schon ein bißchen lenken und führen. Wenn ihr da nicht dahinter her seid, dann wird womöglich aus unserem Schatzi ein wildes Mädchen, das einem Buben ähnlicher ist als einem Mädchen. So geht's nicht, da kriegt sie dann eben von mir die Sachen, wenn ihr ihr so etwas nicht gebt.«
Ich kann das Gespräch leider nicht fortsetzen, weil Anneli wieder irgendwo schreit, bin aber verblüfft, mit welcher Deutlichkeit meine Mutter, die noch nie ein Buch zu geschlechtsspezifischen Erziehungsmethoden gelesen hat, ausspricht, daß Eigenschaften von der Umwelt gemacht werden können, und zwar so, wie die Erwachsenen sich das Geschlecht des Kindes vorstellen.
Im Musikzeittrum : Gleiche Szenerie wie vor einer Woche mit einer anderen Geschichte, gleiche Besetzung der »Tragödie« (für mein Empfinden). Was singen wir diesmal: »Wir sind der kleine HävelmiW».« So lernen es die Mädchen; wir Frauen ringen zu Recht um unsere Identität, war sie uns doch nie vergönnt und ist es immer noch nicht. Daß Anneli irritiert ist und ihr die Definition als Bub oder Mädchen nicht gleichgültig ist, sehe ich daran, daß sie empört und aggressiv einer alten Frau, die sie gleich danach auf der Straße als Bub anspricht, antwortet: »Aber ich bin doch ein Mädchen.«
13. April 1984 (2Jahre, 8 Monate)
Schorschi geht mit seiner Mutter zum Friseur. Wir sind aus Freundschaft dabei. Die Friseuse bekundet ihr Entsetzen darüber, daß einem Bub die Haare so lang gewachsen sind, das sei doch für einen Buben unmöglich. Als sie mit ihrer Arbeit fertig ist, sagt sie befriedigt zu Schorschi: »Jetzt bist du doch endlich wieder ein Bub.«
Abends sind die Kinder mit Klaus noch weg. Als sie nach Hause kommen, müssen sie sofort die Schuhe ausziehen, denn sie waren auf dem Bauernhof. Anneli kann das schon und macht es bei Klaus und bei sich. Ich habe es ihr nicht eigens beigebracht, sie hat es wohl mitbekommen. Schorschi dagegen kann's nicht. Nun kniet sie vor Schorschi, er hält ihr, auf der Treppe sitzend, seine Füße hin. Sie erklärt ihm nun, wie es geht,und zieht ihm die Schuhe aus. Ich habe schon öfter von Müttern älterer Kinder gehört
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