Typisch Mädchen
wage nicht, Martin zu ermahnen. Anneli steht nach verlorenem Kampf frustriert da und ist stinksauer auf Martin, der mittlerweile auf dem Ball sitzt, großkotzig, breitbeinig, seelenruhig und überlegen. Ganz wie es die Bilder von männlichen Körperhaltungen zeigen. 40 Die ganze Runde sitzt immer noch; es herrscht eine verlegene Stimmung. Da fühlt sich Martins Mutter aufgerufen, Annelis Enttäuschung zu mildern, und sagt: »Da schau her, nimm meinen Ball« und hält ihn ihr hin. Zögernd geht Anneli hin, holt sich den Ball und will weiterspielen. Jetzt wiederholt sich alles noch einmal. Martin nimmt auch dieses Mal Anneli den Ball weg, obwohl sie ihn vorher schon hinter dem Rücken zu verstecken sucht. Gleiche Szene, sie bekommt noch einmal von Martins Mutter einen Ball. Kein Wort von dieser zu Martin. Ein drittes Mal dasselbe. Martins Mutter meint jetzt entschuldigend, Martin sei in der Trotzphase, als er trotz Aufforderung den Ball nicht hergibt. Aber ansonsten wird sein Verhalten von seiner Mutter ganz und gar akzeptiert. Es schlägt ihm auch sonst keine Mißfallenskundgebung entgegen.
Lediglich Anneli wird immer wieder hingehalten, muß sich mit etwas anderem zufriedengeben. Das Mädchen muß, obwohl in friedlicher, spielerischer Grundstimmung, seine Psyche urplötzlich einem Buben gegenüber auf Kampf einstellen, mit der Niederlage fertig werden, dann sich mit dem Ersatzgegenstand wieder anfreunden, den sie sich zu allem Uberfluß auch noch bei der Mutter holen muß, und den Faden zum neuen Spiel wieder knüpfen. Es wird eine ganze Menge Anpassung an männliches Verhalten verlangt, dagegen gar nichts von dem Buben. Er ist eben so, wie er ist. Nach der Psyche des Mädchens fragt keiner. Vielmehr wird im Gegenteil das gleichaltrige Mädchen, das ja möglicherweise auch in einer Trotzphase sein könnte, in seinen eigenen Belangen übergangen. Es lernt, daß der Bub grundsätzlich immer recht hat und es selbst die Reaktive sein muß; es lernt, überhaupt zu vergessen, daß es für sich etwas wollen könnte.
Rousseau formulierte dieses, wie wir sehen, immer noch gültige Prinzip vor über 200 Jahren so: »Die künftige Mutter muß Geduld und Sanftmut, einen Eifer, eine Hingabe haben, die nicht abschreckt... den Mädchen muß man sehr früh beibringen, wachsam und arbeitsam zu sein... Sie müssen beizeiten an Zwang gewöhnt werden... Man muß sie gleich anfangs üben, sich Zwang anzutun, damit es sie niemals schwer ankomme, alle ihre Launen zu bezähmen, um sie dem Willen anderer zu unterwerfen. ... Des kleinen Mädchens wird die Mutter sich annehmen und ihm beibringen, daß die Abhängigkeit ein den Frauen natürlicher Zustand ist. Sie wird es daran gewöhnen, seine Spiele ohne Murren abzubrechen und seine Absichten zu ändern, um sich denen anderer zu unterwerfen. Daraus entsteht die Gewohnheit, die Folgsamkeit, welche die Frauen ihr ganzes Leben hindurch nötig haben, weil sie niemals aufhören, entweder einem Manne oder den Urteilen der Menschen unterworfen zu sein.«
3. April 1984 (2Jahre, 8 Monate)
Anneli fummelt mit dem Hausschlüssel an der Unterseite des Stuhles und stellt fest, daß sie den Stuhl jetzt repariert wie Hans das Haus. Warum fällt ihr bei »reparieren« kein Frauenname ein?
Wir sind im Freien Musikzentrum in München - eine Einrichtung der »Alternativszene« - in einem Musik-, Bewe-gungs-, Spielkurs für Dreijährige. Es nehmen noch vier andere dreijährige Mädchen, ein Bub und sechs Mütter teil. Die Leitung des Kurses hat ein Mann. Es wird ein Bilderbuch vorgelesen und diese Geschichte dann in Musik und Bewegung umgesetzt. Alle stehen in einer Reihe und singen ein ums andere Mal »Ich bin der kleine Balthasar und habe keine Angst«, fünf Mädchen, sechs Frauen, ein Bub, ein Mann. Ich bemerke bei Anneli, die jetzt ständig mit der Definition dessen ringt, wer ein Bub oder »Madl« ist und was sie selbst ist, Verwirrung. Warum sucht der Leiter, obwohl er weiß, wie stark der Kurs mit Mädchen besetzt ist, eine Geschichte, in der die Hauptfigur ein Bub ist, und läßt dann noch außerdem diesen Text singen? Natürlich ist es Gedankenlosigkeit, was gleichbedeutend ist mit ungebrochener männlicher Definitionsmacht. Wir alle sind so eingebettet in dieses System der männlichen Vorgabe, daß es nur selten bemerkt wird. Es wäre ja auch ein Ding der Unmöglichkeit, den Buben sich als Mädchen definieren zu lassen! Oder wie wäre das gewesen: Sechs Väter, fünf Buben, eine Frau und ein
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