Typisch Mädchen
»solche Sachen« vorzusagen, sie tue es womöglich, wie zu sehen sei, und könne auf diese Weise Opfer werden. Ist es nicht die uralte patriarchale Weisheit, die Klaus seiner Tochter vermittelt, nämlich, wie sie auf männliche Aggression zu reagieren hat? Sie hat wegzulaufen, zu fliehen, stillzuhalten - keinesfalls offensiv zu sein und sich zu verteidigen oder gar ebenfalls mit Aggression - und sei es nur verbale - zu antworten. Wer sich wieder auf männliches Verhalten einstellen muß, ist das Mädchen.
Wie will frau ein sechsjähriges Mädchen zur Teilnahme an einem Judokurs bewegen, um sich größere Bewegungsfreiheit für ihr ganzes Leben zu verschaffen, wenn ihr Jahre vorher bereits der Sinn für Verteidigung und für Freiheit und Selbstbestimmung durch Erziehung abhanden gekommen ist? Sind wir deshalb als erwachsene Frauen nicht mehr in der Lage, spontan unserer Empörung Ausdruck zu verleihen, weil wir Angst vor noch schlimmeren Erniedrigungen zu haben lernten, anstatt den anderen in seine Schranken zu verweisen?
Klaus meinte es aber sicher gut, wenn er Anneli vor den »bösen Buben« schützen wollte.
14. Juli 1984 (2Jahre, 11 Monate)
Ich kaufe in einem Antiquariat ein altes Kinderbuch für eine Freundin, die diese Bücher sammelt.
Anneli besteht zu Hause darauf, daß wir das Buch anschauen. Wir sehen die Bilder und lesen das Buch mehrere Male. Mir fällt nichts Besonderes daran auf, bis Anneli bei einem Vers nachhakt: 48 »Warum fallen denn die Damen in den Graben?«
Tatsächlich! Es reiten die Herren ordentlich, die Bauern ordentlich, der Edelmann ordentlich - jeder auf seine Weise natürlich. Bloß die Damen, die fallen in den Graben. Das gleiche, das bereits Kate Millett 49 darstellte, ist auch in
diesem Buch zu finden, daß nämlich der Mann der untersten Klasse immer noch gesellschaftlich -höher steht und für fähiger gehalten wird als Frauen aus den oberen Klassen. Genau diese Lebensweisheit wird hier den Kindern nahegebracht. Ich klappe das Buch zu, weiß Anneli keine Erklärung zu geben und belasse es dabei, daß es eine Gaudi sei. Aber auch das ist dumm von mir, denn auf wessen Kosten ist es denn eine Gaudi?
15. Juli 1984 (2Jahre , 11 Monate)
Anneli und Schorschi spielen intensiv zusammen. Sie wollen sich nackt ausziehen. Schorschi kann die Knöpfe seines Hemdes nicht aufmachen, Anneli kann das schon. Ich sage automatisch zu Anneli: »Komm, geh und mach dem Schorschi die Knöpf erl auf.«
Sie tut es. Mann braucht sich nicht zu bemühen und zu lernen, er wird von irgendeiner Frau, ob groß oder klein, schon bedient werden.
Im Verlaufe der nächsten Stunden, in denen die Kinder nackt herumspringen, wird Schorschi mehrere Male von seiner Mutter liebevoll mit »du Zipfelchen« bezeichnet. Sein Geschlechtsteil ist tatsächlich auch bei ihm so stark Teil seiner Persönlichkeit, daß dies für seinen Namen stehen kann. Ich beschließe von jetzt ab, Annelis Geschlechtsteil auch einen für die Persönlichkeit stehenden Namen zu geben, und rede jetzt immer von ihrem »Mädi«, was sie auch sofort aufnimmt.
20. Juli 1984 (2Jahre, 11 Monate)
Anneli brüllt lauthals vor Ärger, weil es ihr nicht gelingt, sich die Socken anzuziehen. Ich schicke Schorschi zu ihr hin, um ihr zu helfen. Er tut es und kniet vor ihr nieder, müht sich ab, so wie sie es schon manches Mal vor ihm tat. Ich bin von diesem Anblick unangenehm berührt. Die Szene ist mir peinlich und ungewohnt. Ich muß mich bewußt zurückhalten und an viele umgekehrte Szenen denken, um nicht sofort einzugreifen und Schorschi zu entlasten. Ist es das Ungewohnte des Anblicks, daß ein »Mann« eine »Frau« bedient?
25. Juli 1984 (2Jahre, 11 Monate)
Schorschi kommt freudestrahlend mit seinem herzigen Ein kaufskörbchen und sagt, er nehme es mit zu Oma, zu deren Besuch wir gerade aufbrechen.
Bei Oma angekommen, hört sich deren Reaktion so an: »Ja, Schorschi, kommst du denn mit deinem Werkzeugkasten zu mir. Ich hab ja gar nichts zum Reparieren.« Es ist völlig gleich, was ein Bub tut oder was er in den Händen hält, es wird in jedem Fall zu einem männlichen Gegenstand uminterpretiert, auch wenn es völlig gegen seine eigenen Vorlieben geht. Ich wußte, daß Schorschi es einfach liebt, nur mit seinem Einkaufskorb das Haus zu verlassen.
1. August 1984 (2Jahre, 12 Monate)
In Omas Garten ist das Planschbecken aufgebaut. Anneli und Schorschi sind begeistert davon. Beide ziehen sich schnell aus, und Schorschi stürzt sich mit vollem Anlauf
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