Typisch Mädchen
vorlesen, singen, musizieren, erzählen; dagegen für die große weite Welt, für den Sport und die Bewegung ist es der Vater.
Logisch, daß im kleinen Buben ganz »natürlich« die Aufteilung der Welt in zwei Lebensbereiche wächst und er demgemäß die Mädchen und die Tätigkeiten einschätzt. Ellen strickt. Plötzlich sagt sie: »Scheiße.« Martin fragt: »Warum?« Sie erklärt, eine Masche sei ihr von der Nadel gefallen. Martin darauf: »Der Papa hat das letzte Mal auch Scheiße gesagt, wie er sich auf der Schreibmaschine vertippt hat, aber das war viel wichtiger, das war für die Klinik.«
5. Juli 1984 (2Jahre, 11 Monate)
Martin fragt, wer von beiden Kindern der Stärkere sei. Ellen antwortet: »Du, aber Anneli ist für ein dreijähriges Mädchen ganz stark.«
Damit hat sie ihren Sohn gelehrt, daß normalerweise Mädchen nicht so stark sind. Auch für Anneli wird es jetzt noch keine Rolle spielen, aber ich bin mir sicher, daß mit zunehmendem Wunsch, so zu sein wie die anderen, normal zu sein, Sätze wie dieser dafür sorgen, daß das Mädchen seine Stärke irgendwo auf dem Lebensweg verliert. Anneli und ich rennen Hand in Hand einen breiten Weg von der Alp ins Dorf hinunter. Anneli sagt: »Mami, jetzt rennen wir ganz schnell. Wir sind die Buam, und das sind dann bloß die Madin.« Sie meint damit Ellen und Martin. Wo hat sie denn das her?
Abends nach dem Essen. Anneli greift sich eines der Bilderbücher und will es ansehen. Sie sitzt am Boden. Da kommt Martin wie der Blitz und will es ihr wegnehmen, weil er es ansehen will. Wir einigen uns auf »zusammen«. Wie sieht das aber aus:
Beide liegen am Boden auf dem Bauch, das Buch vor sich. Martin beginnt nun mit seinem größeren Körper, Anneli Stück für Stück an den Rand zu drängen, bis er sich zum Schluß mit dem Oberkörper quer über das Buch legt, so daß Anneli nichts mehr sehen kann. Auf Ermahnung hin rückt er nun für wenige Zentimeter wieder zur Seite. Er hat tatsächlich nachgegeben! Anneli darf wieder ins Buch schauen, auch wenn sie eigentlich diejenige war, die ursprünglich auf die Idee gekommen war. Jetzt bekommt sie auf diese Weise winzige Ausschnitte zu sehen. Weder Ellen noch ich machen Martin sein Verhalten klar und sagen ihm, daß dies kein »zusammen« ist.
Jetzt ist es Anneli zu dumm. Sie steht auf, holt sich ein anderes Buch, setzt sich hin und beginnt es anzuschauen. Sie brummelt vor sich hin: »Dann hol ich mir halt ein anderes Buch, wenn mich der Martin nicht anschauen läßt.« Bei Anneli ist bereits die gleiche Reaktion zu verzeichnen, wie sie von den erwachsenen Frauen erwartet und erbracht wird: zu weichen, wenn der Mann auftaucht und sich für gleiches interessiert. Allein schon die Tatsache, wie Anneli formuliert, daß Martin etwas nicht zuläßt, das eigentlich ihre eigene Sache war, läßt die Verankerung dieses Prinzips in ihrem Kopf erahnen.
Jetzt interessiert sich Martin aber für das neue Buch von Anneli. Das Spielchen kann von neuem beginnen. Das Mädchen hat sich ständig unterbrechen zu lassen und soll sich anpassen. Da greifen sowohl Ellen als auch ich ein. Wir hatten bereits ausgiebig über das Tagebuch diskutiert. Wäre es uns ohne dies nicht aufgefallen?
Der ganze Mütter -Kinder-Troß macht Pause beim Bergsteigen. Es wird Tee getrunken. Als Martin seinen Becher geleert hat, wirft er ihn Anneli vor die Füße, die ebenfalls schon aufs Trinken wartet. Ellen bückt sich, hebt den Becher auf und drückt ihn Anneli in die Hand. Sie bemerkt zu Martin: »So geht's aber nicht.«
Zu mir sagt sie: »So eine Gedankenlosigkeit ist das bei den Buben. Das gleiche wie später bei den ausgewachsenen Männern, wenn sie es nie für nötig halten, den Deckel der Toilette nach dem Benutzen herunterzuklappen.« Aber es ist ja auch nicht notwendig, die Gedankenlosigkeit in Aufmerksamkeit umzuwandeln, findet sich doch immer eine Frau, die zur Vermeidung von Streit den Handgriff tun wird. Wie eben bei Martin.
7. Juli 1984 (2Jahre, 11 Monate)
Ich gebe Anneli ein Zweifrankenstück, damit sie sich Schokolade kaufen kann. Sie steckt es in ihre Hosentasche auf dem Popo und bemerkt dazu: »Jetzt bin ich wie ein Bua.« Ich: »Warum?«
Sie: »Weil ich das Geld in der Hosentasche hab.« Ich: »Ja, haben die Madin das nicht?« Sie: »Nein« - keine weitere Antwort. Ich verstehe den Sinn zunächst nicht, bis mich Ellen darauf aufmerksam macht, daß Frauen ihre Geldbörse grundsätzlich in der Handtasche haben, Männer dagegen in der
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