Typisch Mädchen
sofort in die Flut. Anneli dagegen bewegt sich etwas vorsichtig auf das Wasser zu und steigt langsam, ein Bein nach dem anderen, in das Wasser. Als sie ein- oder zweimal die Erfahrung damit gemacht hat, ist auch sie nicht zu bremsen. Aber Omas erster Kommentar ist nicht mehr wegzuwischen: »Typisch Mädchen, gell, wie vorsichtig unsere Anneli ist und wie mutig doch der Schorschi reinhupft.« Schorschi hatte kurz zuvor drei Wochen am Meer verbracht-für Anneli war es das erste Bad der Saison.
3. August 1984 (2Jahre, 12 Monate)
Anneli spielt mit Klaus Handwerker, mit mir Bauer und Pferdl, mit Schorschi Motorradifahrer, mit Tanja Doktor und mit Claudia Clown. Obwohl es bis auf den Clown alle Berufe auch in der weiblichen Ausgabe gibt, wird grundsätzlich immer nur die männliche Variante gespielt. Und ich spiele mit oder höre zu.
Wenn Anneli nun der Motorradfahrer ist, dann verwandelt sie sich total. Sie nimmt eine tiefe Stimme an, spricht nur wenige Worte, lauter und fordernder als sonst und sehr abgehackt. »Hey, du« kommt dabei dann oft vor. Wenn sie mich heranwinkt, dann mit weit ausholender Armbewegung. Ihr Gang wird breitbeinig - wie John Wayne gegen das Abendrot. Sie ist die Karikatur eines Mannes und glaubt doch, die Person »Mann« auf diese Weise zu sein. Sie hat es wohl bei vielen verschiedenen Gelegenheiten den Männern abgeschaut. Klaus gefällt das Spiel nicht, und er gibt Anneli dies immer wieder zu verstehen. Warum wohl? Ist sie so nicht sein Mädi? Schorschi spielt genauso intensiv, und niemand stört sich daran. Bei ihm paßt es eben! 50
14. August 1984 (2Jahre, 12 Monate)
Ellen mit ihrem fünfjährigen Martin jammert wieder einmal über das mangelnde Interesse ihres Sohnes an seiner Puppe. Sie sehe im Kindergarten, wie sehr sich jetzt die Mädchen zum Puppenspielen zusammentäten, und sie wundere sich, warum ihr Sohn nicht ebenso spiele.
Bei genauerer Unterhaltung stellt sich dann allerdings heraus, daß sie selbst niemals mit ihm zusammen mit der Puppe spielte, ihm nie eine Spielidee mit dem Gegenstand vermittelt hatte (schau doch mal, ob die Puppe friert usw.), ja, daß sie noch nicht einmal für sich selbst die Vorstellung hatte, er könnte tatsächlich wie ein Mädchen damit umgehen. Richtiges Puppenspiel hatte sie niemals mit ihrem Sohn in Verbindung gebracht. Sie gab zu, daß sie das alles aber sehr wohl bei den Freundinnen ihres Sohnes und deren Müttern erlebt hatte. Diese kauften gemeinsam Puppenkleider, nähten oder strickten für die Puppe, umsorgten die Puppe und brachten sie auf diese Weise ihren Töchtern nahe. Hat sie ihm nicht durch ihre Zurückhaltung die Botschaft übermittelt, daß dieser Gegenstand für ihn im Grunde genommen uninteressant ist?
15. A ugust 1984 (2Jahre, 12 Monate)
Wir sind fürs Wochenende bei Freunden auf dem Bauern-hof.
Zu Hause sieht Anneli nie fern. Zufällig ist sie in der Stube, als der größere Sohn sich einen Film ansieht, bei dem eine Frau von einem Mann geschlagen wird. Ich bin nicht dabei. Sie kommt völlig aufgelöst und laut heulend zu mir in die Küche gestürzt und erzählt bloß immer unter Schluchzen, daß eine Frau gehauen wird. »Warum, Mami, warum darf der die hauen?« Ich weiß keine Antwort. Da schaltet sich die Bäuerin ein: »Weißd, der ist halt bös.« Annelis Frage, ob der das darf, ist damit natürlich auch nicht beantwortet. Ein Mann tut das eben, auch wenn er dann bös ist.
16. A ugust 1984 (2Jahre, 12 Monate)
Eine Nachbarin ist zu Besuch, und ich unterhalte mich mit ihr.
Anneli wird es langweilig. Sie nörgelt, und meine Stimmung droht gleich zu wechseln, als die Nachbarin die Situation erfaßt und Anneli darauf aufmerksam macht, daß ihre Puppe ja nackt sei. Sie müsse das Püppchen anziehen und natürlich auch vorher noch waschen usw. Anneli geht darauf ein, und der Friede ist gewahrt, wenn auch das Spiel mit der Puppe nicht für lange Zeit vorhält. Bei einem Buben wäre es sicher das Auto, der Bagger oder der Baukasten gewesen. Es ist heute wohl Annelis schlechter Tag. Jedenfalls kracht es zwischen uns. Wir gehen uns aus dem Weg, bis Anneli plötzlich kommt und in einschmeichelndem Ton sagt: »Mami, j etzt bin ich wieder lieb.«
Dann geht sie in den Garten, holt Schaufel und Besen und wendet sich wieder an mich: »Ich putz dir jetzt das Haus,' Mami, und räum auf, gell, ich bin jetzt die Putzerin.« Ich bin entsetzt und hätte es nicht für möglich gehalten, daß auch das ein Ergebnis meiner Erziehung sein könnte,
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