Typisch Mädchen
Martin (vierdreiviertel Jahre alt). Die Kinder sind begeistert und glücklich miteinander. Abends ini Bad wäscht sich Anneli die Hände und ist voll konzentriert bei der Sache. Martin steht daneben am Klo und pinkelt. Ohne daß Anneli ihn dabei beachtet hätte, redet er Anneli an: »Du kannst ja gar nicht im Stehen pinkeln wie ich.«
Anneli schaut irritiert von ihren Händen auf und in sein Gesicht, das einen triumphierenden Ausdruck hat. Sie wirkt verunsichert. Ich kann nicht an mich halten, greife ein und antworte für Anneli: »Natürlich kann sie das. Heut hat sie über einen riesigen Felsen hinutitergepinkelt. Was glaubst du denn?«
Daraufhin wieder er: »Aber sie kann nicht so weit wie ich.« Ich: »Das interessiert uns eigentlich gar nicht, wie du pinkelst«, nehme Anneli und lasse ihn stehen. Er will aber Anneli gegenüber nicht lockerlassen, er braucht offenbar einen Sieg über ein Mädchen und läuft uns mit seinem »Problem« nach. Da wir in der Zwischenzeit jedoch ein schönes Buch mit einer spannenden Geschichte ansehen, ist sein Thema nicht mehr von Interesse für Anneli. Sie hört ihm nicht mehr zu.
3. Juli 1984 (2Jahre, 11 Monate)
Es ist heiß zum Wandern, und Anneli beschließt, nackt zu laufen. Sie ist begeistert von ihrem Körper und erzählt stolz, daß sie jetzt einen dicken Busen und einen dicken Bauch hat, weil sie ein Baby bekommt, und streckt den Bauch weit vor.
Sie beschäftigt sich auch zwischendurch mal mit ihrem Genital und kichert, weil es so schön kitzelt, wie sie sagt. Klaus stellt daraufhin fest, daß das für ihn ein ganz neuer Gedanke sei, das Genital seiner Tochter nicht allein als Körperteil zum Wasserlassen zu betrachten, sondern auch als Körperteil für Lust zu erkennen, wie ihm das für einen Buben selbstverständlich wäre.
Als kleiner Bub sei jedenfalls sein kleiner Schwanz für ihn selbst über das Pinkeln hinaus von Wichtigkeit gewesen, und dem sei auch von den Erwachsenen Bedeutung zugemessen worden. Bei einer Tochter könne er sich das nicht vorstellen. Er wisse nicht so genau, wie er ihr Genital einschätzen solle, deshalb würde er wohl auch nicht darüber reden oder schäkern, wie das bei kleinen Buben immer wieder geschähe und wie er es sicher auch bei einem Sohn halten würde. Das Mädchen als das geschlechtslose Wesen im Gegensatz zum Buben.
Simone de Beauvoir schrieb dazu: »... Das Schicksal des kleinen Mädchens ist davon ganz verschieden. Mütter ... haben für seine Geschlechtsteile weder Ehrerbietung noch Zärtlichkeit. Sie lenken seine Aufmerksamkeit nicht auf dieses verborgene Organ ... es hat gewissermaßen überhaupt keinen Geschlechtsteil.« 46 Offenbar hat sich seit 1949, als Simone de Beauvoir diese Feststellung traf, nicht sehr viel am Bewußtsein der Menschen geändert.
4. Juli 1984 (2Jahre, 11 Monate)
In einem Gespräch mit Ellen geht es um Pläne für unsere weitere Lebensgestaltung und Berufstätigkeit. Ich meine: »Wenn ich weiß, was ich will, dann muß Anneli dabei natürlich mitmachen, wenn ich es auch so schonend wie möglich für sie gestalten möchte. Aber sie hängt doch von mir und ich von ihr so ab, daß wir es gemeinsam schon schaffen werden. Es ist ja auch gut für sie, wenn ich das tue, was für mich gut ist.«
Ellen meint: »Ich frage mich in erster Linie, was ist für Martin gut, und richte dann meine Pläne darauf ein. Wenn ich sehe oder mir denken könnte, daß es seiner Entwicklung nicht förderlich ist, dann kann ich diesen Plan eben für mich nicht verwirklichen.«
Ist es reiner Zufall, daß die Tochter-Mutter zuerst an sich denkt und von ihrer Tochter die Anpassung erwartet, dagegen die Sohn-Mutter sich in erster Linie den Bedürfnissen des Sohnes anpaßt?
Beim Abendessen legt Martin plötzlich los: »Rosa ist eine Kotzfarbe.«
Ellen fährt empört dazwischen: »Stimmt doch gar nicht, dir gefällt doch Rosa, das sagst du doch bloß, weil Wasti (sein siebenjähriger Cousin) das sagt, und der sagt es auch bloß, weil es eine Weiberfarbe ist!«
Auch wenn Ellen es so nicht meinte, aber eine Verbindung von Minderwertigkeit und »Weibern« war damit hergestellt. Das Tischgespräch dreht sich um neue Spiele und Abenteuer für Martin. Dazu gehört Fußballspielen und Zelten. Aber beides könne leider erst gemacht werden, wenn der Papa mal wieder Urlaub habe und mit Martin wegfahren werde, denn das dem Sohn beizubringen sei Sache des Vaters. Für alles, was im Haus stattfindet, fühlt sich Ellen zuständig: basteln,
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