Über Alle Grenzen
Südamerika und zwischen Rhein und Wladiwostok tun. In einer solchen Lage ist man gerne großzügig, und unsere Zentren luden fröhlich andere tibetische Lehrer ein. Das nutzte leider niemandem. Selbst frühere Freunde sahen uns nach kurzer Zeit in der Elternrolle, wofür wir uns schlecht eignen, und wurden sauer, wenn wir ihnen nicht alles geben konnten. Noch dazu waren sie oft zu unreif, um verschiedene Wege unbewertet im Raum stehen zu lassen. Sie versuchten daher zwanghaft, eigene Lehrer aufzuwerten, indem sie andere herabsetzten oder Gerüchte verbreiteten. Untersuchte man den Lauf der Geschichten, so wurden sie von den Lehrern eher geduldet als in die Welt gesetzt, und oft wussten sie nichts davon. Dennoch war es an der Zeit, nur noch diejenigen einzuladen, die Karmapas Arbeit unterstützten.
Obwohl für Anhänger einer heilen Welt schmerzhaft, sind solche Trennungen notwendig und nützlich. Das Ziel der Arbeit ist ja geistige Entwicklung und die Beherrschung unseres Lebens. Stark und unabhängig, wie meine Schüler werden, mussten sie den äußeren Rahmen – nicht jedoch unsere Übertragung – demokratischer und westlicher gestalten. Das war unvermeidbar und auch gut so. In sich gefestigte Lehrer fühlen sich außerdem wohler, wenn die Schüler nicht aus missverstandener Hingabe versuchen, sich besonders oder tibetisch zu verhalten. Tatsächlich schätzen sie unsere reifen westlichen Fähigkeiten und unsere Entschlusskraft.
In Sikkim löste sich zugleich eine heikle Sache auf, und das glücklicherweise ganz von selbst. Sogyal Tulku, ein hochbegabter Lehrer der Nyingma-Übertragung aus England, hatte mehrmals die Polen gebeten, zu ihnen eingeladen zu werden. Das brachte uns in eine schwierige Lage. Einerseits wollte ich keinem im Weg stehen, andererseits berief er sich so sehr auf die tibetische “ausgedehnte Sippe”, dass die Leute nach seinen Besuchen fast glaubten, Karmapa sei sein Vater und Kalu Rinpoche seine Mutter. Diese Anschauung hat übrigens auch erfrischende Seiten, beispielsweise erklärt sie alle Männer, die die Gunst derselben Frau genießen, kurzerhand zu Brüdern. Sogyal Tulku war noch dazu stark von Trungpa Tulku beeinflusst und verwendete die Begriffe anders als wir, was unsere Freunde verwirrte. Zum Beispiel bezeichnete der Begriff “Mahamudra” bei ihm nur den Weg, während er bei uns Grundlage, Weg und Ziel mit einschließt. Ich hatte immer versucht, diese Angelegenheit hinauszuschieben, ohne bevormundend zu sein, und nun kam ein polnischer Mönch zu mir und sagte: “Wir fragten Dilgo Khyentse Rinpoche wegen Sogyal Tulku, und er antwortete: ‘Er ist sehr jung, und wir wissen nicht, was er tut.’” Von da an war die Frage vom Tisch.
Die zehn Tage mit Shamarpa und Jamgön Kongtrul Rinpoche, die hauptsächlich Karmapas Arbeit fortführten, waren also zukunftsweisend. Auch wurde Hannahs Übersetzungsarbeit für das nächste Jahr festgelegt. Als wir wieder einmal bei Topga Rinpoche saßen, kam Künzig Shamarpa mit einem toten Vogel in den Raum. Er war klein und steif. “Jetzt tust du es ja auch”, sagten wir, doch er antwortete: “Nicht so. Ein Vogel im Käfig ist eine Ausstrahlung Karmapas, und er bringt den anderen das Meditieren bei!”
Um Gyaltsab Rinpoches neues Bauland in einem schönen und unberührten Teil des Landes zu besichtigen, fuhren wir ein paar Stunden über Stock und Stein. Das Land liegt abseits von Nepalesen, Indern und Touristen, aber leider nicht fern von Politik. Es war ihm von einer sehr reichen und schwierigen sikkimesischen Sippe geschenkt worden, auch als Schachzug gegen Rumtek und Topga Rinpoche. Dieser war auf Karmapas Geheiß treu geblieben und wollte eine von Tai Situpa in ihrer Familie gefundene Wiedergeburt nicht anerkennen.
Auf dem Weg zurück, den inzwischen erstaunlich übervölkerten Osthimalaya hinunter, hatten wir noch eine wichtige Sache zu erledigen: Kalu Rinpoche hatte uns eindringlich gebeten, ihn vor Europa noch einmal zu besuchen. Er hielt sich bei Siliguri auf, wo sich seine tapferen Mönche aus Sonada wieder inmitten einer riesigen Bauarbeit befanden. Diesmal ging es um eine vollständig ausgeschmückte Stupa, 33 Meter hoch. Nur Kalu Rinpoche konnte auf die Idee kommen, einen so riesigen Ausdruck der allen Wesen innewohnenden Erleuchtung an einer verqualmten Straße im leidenden, übervölkerten und lärmenden Nordindien zu bauen. Der Nutzen für die Menschen würde in künftigen Leben bestimmt größer als in diesem
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