Über Alle Grenzen
und darf niemals gegen die Wünsche der Betroffenen eingesetzt werden. Wer mit erreichten Fähigkeiten andere bespitzelt, macht einen ernsthaften Fehler. Man soll den Menschen auf der Ebene begegnen, auf der sie eine Verbindung einzugehen wünschen, und ihnen von dort aus so gut wie möglich helfen. Die Menschen zu entkleiden oder sie therapiemäßig durchzugraben verstärkt bei gesunden Leuten nur ihren Glauben an ein “Ich” und andere Trips. Die buddhistische Vorgehensweise ist, sich immer mehr den Erleber selbst, den überpersönlichen Raum und die Klarheit des Geistes zu vergegenwärtigen. Es kann kein Endziel sein, die rostigen Eisenketten unschöner Vorstellungen bloß durch die Goldketten der schönen auszutauschen. Die glatte, alles mit süßen Worten belegende Selbstzufriedenheit, die so entsteht, hindert den Geist ebenso wie leidvolle Zustände, und man entdeckt vielleicht erst beim Tod, dass man auf einer falschen Spur fuhr. Der tüchtige Lehrer geht deswegen leicht über die Begrenzungen der Schüler hinweg und vermittelt stattdessen immer wieder den Zugang zu ihrem inneren Reichtum. Es ist sinnvoll, die bedingten Gefühle nicht ernst zu nehmen. Sie kommen und gehen ja sowieso die ganze Zeit.
Erleuchtung ist weniger eine Frage davon, ob schlechte Gedanken abgebaut werden und gute sich anhäufen. Dies geschieht von selbst, wenn man nur bewusster lebt. Das Wichtige ist, dass man die inneren Zustände nicht mehr beurteilt. Man sollte sie als Klarheit des Geistes und sein freies Spiel erleben, während man unsentimental und mühelos das macht, was im Leben möglich ist. So wird die unbedingte und zeitlose Freude des Erlebers alles immer stärker durchstrahlen, und man erreicht die Ebenen des Großen Siegels. Dort passt alles so, wie es ist, und es ist möglich, fehlerfrei zum Besten aller zu handeln.
Kalu Rinpoche stand also im Mittelpunkt dieser beiden Wochen in Bodhgaya. Währenddessen kam auch Khenpo Tsültrim Gyamtso mit vielen seiner Schüler aus Kathmandu zu Besuch. Sie wurden von fast unglaublichen Unfallreihen verfolgt, was man bei Kagyüpas sonst nicht findet. Hannah und das Übersetzerteam gingen oft zu ihm und anderen Khenpos in der Gegend, um Erklärungen für die Texte einzuholen, bekamen aber selten Unterstützung. Kalu Rinpoches Arbeit, weil eher von Meditierenden als von Gelehrten ausgeführt, genoss nicht ihr Vertrauen.
Während Tomek jeden Morgen sechshundert bis siebenhundert Verbeugungen an Buddhas Erleuchtungsstupa machte, fastete ich mir das ganze Amerikafett vom Körper und schrieb achtzehn Stunden am Tag. Hannah und ich genossen es sehr, wieder zusammen zu sein. Nachdem das englische Buch über die Vorbereitenden Übungen am 13. Februar beendet war, begann ich sofort mit diesem gediegenen Werk. Die Nacht zuvor hatte ich einen – sogar für eine so heilige Stelle – ungewöhnlich kraftvollen Traum: Ich ging in einer Schneelandschaft zwischen schwarzen Schlittenspuren einen Weg hinunter. Vor mir lag ein fast ovaler Holzkasten, in alten, kaputten Brokat gehüllt. Als ich den gewölbten Deckel aufklappte, hielt ich eine leuchtende, goldene Statue von Liebevolle Augen in den Händen, dessen Strahlkraft mich völlig blendete. Die Statue war etwa dreißig Zentimeter groß, und ich fühlte riesige Freude, weil sie so stilrein war: mit trapezförmigem, nicht rundem Gesicht und allen vier Armen nahe am Körper. Mit der Statue an die Brust gedrückt, sprang ich den Berg zu meiner Linken hoch und wusste dabei nur eines: “Ich muss ihn retten, bevor die Leute aus dem Museum ihn fangen!” In einem Meer von Wonne aufwachend, war mir klar: Liebevolle Augen wollte nützlich sein. Ich trug nun seinen Segen, unsere Arbeit von den kulturellen Einschränkungen zu befreien, die den Westen vom Diamantweg fernhalten. Dieser Segen, die Freude an unserem breiten Wachstum und die ständige Notwendigkeit, frisch und durchsichtig zu bleiben – das hält noch heute meine Nase in der Spur. Aus einem solchen Reichtum heraus stört es kaum, die Einflüsse öfter abschneiden zu müssen, die der Arbeit die Freude und Echtheit rauben. Wenn mitunter die Politik mehr der Erhaltung als der Ausdehnung dienen muss und wie 1992 sogar hohe Tulkus sich als pro-chinesisch entlarven, muss man einfach den Vergleich mit der Geschichte anderer Schulen und Religionen ziehen und sich erinnern, dass Buddhist – und sogar Rinpoche – nicht Buddha bedeutet.
Der äußere Rahmen der folgenden Wochen war wieder Khyentse
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