Über Alle Grenzen

gegenseitig umgebracht, seit Kolumbien auf der Landkarte erschienen war.
    Das Bild wurde durch zahlreiche Privatarmeen und bezahlte Mörder keineswegs vereinfacht. Mitglied der ruhmreichen Gesellschaft MAS wurde zum Beispiel nur, wer drei unbekannte Menschen auf offener Straße umbrachte. Jede Nacht hörte sich die Stadt wie eine Schießbude an, und Adriana ehrte unsere Schützer sehr: In meiner Begleitung wagte sie es seit zehn Jahren zum ersten Mal, auf die Straße zu gehen. Sonst saß sie immer in ihrem unauffälligen Auto, Türen und Fenster geschlossen. Alle waren von der steten Gefahr beeinflusst, was vor allem an den Linien um den Mund der Leute erkennbar wurde. Während meiner Vorträge sprangen die Zuhörer jede halbe Stunde zu den Fenstern. So oft heulten die Alarmanlagen der Autos, die gerade aufgebrochen wurden.

    Seit zehn Jahren zum ersten Mal auf der Straße

    Eduardo besaß vier Höfe, von denen er nur noch einen besuchen konnte, weil er sonst gekidnappt würde. Zwei seiner Onkel waren schon als Geiseln erschossen worden. Seinem Bruder war auf der Straße in einer Zigarette Scopolamin verabreicht worden, ein Wahrheitsserum und Nervengift. Er wurde ein paar Tage später auf einem Feld gefunden, nackt und mit einem leichten Dachschaden.

    Kalu Rinpoches Todeszeremonie

    Die Gewaltebene Kolumbiens wurde am klarsten, als einmal zwei Transporter so unmöglich und ruckhaft auf der Straße vor uns herfuhren, dass unser Fahrer nicht überholen konnte. “Das sind sicher Gangster, die einen Angriff vereiteln wollen”, sagte er. Als wir schließlich auf gleicher Höhe mit einem der Transporter waren, sahen wir einen Mann mit einem schweren Maschinengewehr in den Händen. Waffen kannte ich aus meiner Zeit beim Militär, aber so ein Gesicht hatte ich noch nie gesehen: Es war wie aus Granit gemeißelt.
    Adrianas Schwiegermutter leitete die beste englische Schule Bogotás. Die Kinder stellten viele Fragen. Zugleich waren sie aber schon so abgebrüht, dass sie fast einige Leichen vergessen hätten, über die sie am Morgen aus dem Schulbus hatten steigen müssen. Meinen Vortrag in der teuersten Universität des Landes besuchten meist ältere Zuhörer, wie es auch lange in Venezuela und den USA der Fall war. Zwanzig Gesellschaftsstützen nahmen hinterher Zuflucht, und die Gruppe in Bogotá füllte inzwischen den mittleren Stock des Reihenhauses, das Adriana in einer gemischten Gegend gekauft hatte: Nebenan lag das Flüchtlingslager, dessen Bewohner so fleißig die Autos knackten. Auch hier kam die 16. Karmapa-Meditation gut an, und sie wollten die Videobänder meiner Vorträge mit Caracas und Merida austauschen.
    Zum Abschied machte Eduardo ein handfestes Geschenk für Karma Berchen Ling, unser damals neues Meditationszentrum in Griechenland: eine 70 Kilogramm schwere Maschine, mit der Ziegel aus nassem Lehm gepresst werden konnten. Da man auf Strecken ohne amerikanische Luftfahrtgesellschaften an der für mich unverständlichen 20-Kilo-Begrenzung für Fluggepäck kaum vorbeikam, trugen wir öfter Berge von Handgepäck. Diesen Eisenklumpen unentdeckt über Paris nach Frankfurt und dann von München nach Athen zu bringen, war aber schon ein ziemlicher Trip. In München wurden wir wieder aus dem Flugzeug gerufen, und da sie verschärft auf der Jagd nach Übergewicht waren, musste ich die Maschine so tragen, als sei sie nur fünf Kilo schwer. So viel wurde erlaubt.

    In Karma Gön auf dem Weg ins reine Land

    Am 10. Mai starb Kalu Rinpoche, während Hannah in Malaysia übersetzte. Als es endlich gelungen war, die vielen geschäftigen indischen Ärzte aus seinem Raum in Sonada zu schicken, hatte er sich im Bett aufgesetzt, sich auf Bokar Rinpoche und Gyaltsen gestützt und einfach ausgeatmet. Wir hatten dabei beide seinen Segen gespürt. Hannah fiel sein Bild genau zur Zeit seines Todes aus einem Buch heraus. Sie besuchte seine Mumie im Juni auf dem Rückweg nach Europa und übermittelte unseren wärmsten Dank.

    Riß und Blutfleck, ein typisches Phowazeichen

    Danach lehrte ich das Bewusste Sterben in Karma Gön. Von diesem schönen Bergrücken aus erreichen jedes Jahr Hunderte die Reinen Länder: Tatsächlich steht die Lage des Dorfes Rumtek in nichts nach. Karmapa ist nirgendwo näher als hier. Schon beim Lung – dem Vorsingen der Texte – blutete Pedro aus der Nase und hatte ein Loch auf seinem edlen Scheitel. Alle zweihundertfünfzig schafften es in vier Tagen.

    Haus Schwarzenberg

    Nach ein paar Wochen in der