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Über Alle Grenzen

Über Alle Grenzen

Titel: Über Alle Grenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lama Ole Nydahl
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sein.
    Gyaltsen und den Mönchen ging es gut; ihre Arbeit war vorzüglich. Als wir die Stufen zu Kalu Rinpoches Raum hochsprangen, erinnerte ich mich, wie viel Ausdauer und Einsgerichtetheit wir von diesem alten Kämpfer erlernt hatten. Diese Zähigkeit, verbunden mit der Hingabe einer Handvoll Schüler, hatte seine Arbeit so weitreichend gemacht.
    Kalu Rinpoche war kahl geschoren, und sein zeitloses Gesicht sah überirdisch aus. Leider ging es ihm nicht gut. Da viele Einheimische im Raum saßen, waren Worte nicht das Wichtigste. Hannah versprach, bei seinen Übersetzungsarbeiten nach Möglichkeit zu helfen, und ich erzählte von meinen letzten Plänen für die Vergrößerung von Karmapas Arbeit. Dann wünschten wir ihm alles Gute und empfingen seinen Segen. Wir alle waren uns bewusst, dass es vielleicht die letzte Begegnung in diesem Leben war. Als wir im Zug nach Bodhgaya saßen, waren wir froh, dass wir seinen letzten Wunsch an uns erfüllt hatten.

    Zeitloses Gesicht

    Im überfüllten Bahnhofscafé von Patna zeigte sich wieder Karmapas grenzenloser Kraftkreis. Unsere überstempelten Pässe sehend, in denen wir eine Seite für weitere Vermerke frei radierten, fragte ein angenehmer und gebildeter Inder am Tisch nebenan, ob wir Ole und Hannah aus Dänemark kennen würden. Das taten wir, aber wir erkannten ihn auch nicht wieder. Er war der Ingenieur, dem ich vor achtzehn Jahren bei einer flüchtigen Begegnung das Mantra “Karmapa Tschenno” gegeben hatte. Es war ihm seit dieser Zeit sehr gut gegangen, und er war inzwischen erfolgreicher Politiker geworden. Jetzt schenkten wir ihm noch das Heftchen mit der 16. Karmapa-Meditation, die zum Mantra gehört. Vielleicht würde er ja Präsident sein, wenn wir ihm das nächste Mal begegneten …
    Bodhgaya bot wieder eine feine Gelegenheit, um mit Shamarpa und Lama Jigmela über Europa zu reden. Nach vielen Jahren unter berühmten und reichen, aber meist schwierigen Leuten entdeckten sie gerade das Fußvolk. Es gefiel ihnen, dass unsere Gruppen lebensferne Exotik vermieden und wir einen Erleuchtungsweg aufgebaut hatten, der sich in allen Lebenslagen unmittelbar auf Karmapa bezieht.
    In Delhi angekommen, pflegte Hannah unsere tibetischen Verbindungen vom “Tourist Camp”. Den letzten Abend lud uns Künzig Shamarpa zu einem einmaligen Essen ein. Das von ihm geleitete KIBI in Neu Delhi wuchs mit dem Geld der Exilchinesen jetzt sehr schnell heran.

    In Frankfurt kamen wir mit einigen Stunden Verspätung an. Ich war tief berührt: Hundert Freunde warteten am Flughafen. Wir stiegen in den oberen Stock für eine Meditation und für Segen.
    Nach zehn Tagen mit glühendem Fernsprecher und überfüllten Kursen in Dänemark und Wuppertal ging die Fahrt wieder in die weite Welt. Mit Eva aus München und Tomek flogen wir über Paris nach Caracas, Venezuela. Tomek reiste mit dem Pass eines dänischen Freundes – mit Glatze –, weil damals keine Personen aus dem Ostblock einreisen durften. Im besten Stil der warmen Länder hatte man unsere Ankunft um einen Tag zu spät berechnet. Wir warteten also ein paar Stunden im Flughafen und nahmen dann im Morgengrauen ein Taxi in die Stadt. Der runde, schwarze Fahrer war immer noch im Schock: “Sie erschossen ein paar tausend Leute”, sagte er, “ihr könnt die Einschusslöcher in den Mauern noch sehen. Eines Morgens, als die Leute in den Barrios” – hier zeigte er auf die Slums an den Berghängen – “aufwachten, waren alle Preise verdoppelt worden. Sie sahen, dass sie genug Geld hatten, um zur Arbeit zu fahren, aber keins mehr für die Rückfahrt. So schlugen sie sich zuerst mit den Busfahrern.” Als die Menschenwelle das Stadtzentrum erreicht hatte, musste sie völlig durchgedreht sein. Die Dinge, für die sie oft jahrelang gespart hatten, waren plötzlich unbezahlbar. Also beschlossen sie, sich selbst zu bedienen. Was sich die Polizei dabei vorstellte oder welche Befehle sie bekommen hatte, ist wohl nicht geklärt. Vielleicht handelten sie aus einer Art gesellschaftlicher Gerechtigkeit heraus: Sie ließen die Besitzer eines Radio oder Fernsehers laufen, erschossen aber dafür diejenigen mit zwei Geräten.
    So etwas hatte es nie zuvor in der Geschichte des Landes gegeben, das sich seiner Nähe zur europäischen Kultur rühmt. Obwohl die Wirtschaft wegen der üblichen Überbevölkerung katholischer Länder nicht gesunden und später kaputtgehen würde: Wenn die Regierung vertrauenserweckend gewirtschaftet hätte, wäre keine Krise

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