Über Alle Grenzen
entstanden. Das Doppelte der Staatsverschuldung, die den Preissprung verursachte, lag auf privaten Konten der Bürger des Landes – nur eben in Florida.
Eine Frau aus dem Zentrum in Caracas hatte einige meiner Bücher schon vor Jahren ins Spanische übersetzt. Wir waren hier wirklich im letzten Augenblick angekommen: Das Zentrum war in Auflösung begriffen. Der Khenpo aus Woodstock hatte sich mit einigen sehr zornigen Äußerungen von Lateinamerika losgesagt. Riesige Kultursprünge in der Vermittlung des Stoffs, viel zu seltene Lehrerbesuche und gänzlich fehlende Ermunterungen zur Eigenverantwortung hatten Buddhas lebensnahe Ratschläge zu etwas sehr Abgehobenem gemacht. Es war wie immer und überall: Wer das Fremdartige an den Belehrungen betont, erntet nach außen hin ergebene Schüler, die aber wenig wissen und sehr verunsichert sind. Ihre geistige Nahrung sind die vergangenen und künftigen Besuche ihrer Lehrer, und so wird niemand selbständig. Unter diesen Umständen war es ein paar bereits erwähnten Lamas aus Neapel und England mit marktgerechteren Belehrungen nicht schwer gefallen, mehrere aus der Gruppe für sich zu gewinnen.
In vier Tagen stand alles wieder. Belehrungen und Meditationen fast rund um die Uhr ließen die Schar der Zuhörer stündlich anwachsen. Mit aufgerollten Ärmeln segnete ich die Leute bis zum frühen Morgen und kehrte dabei ständig zu den Hauptbelehrungen zurück, die in den warmen Ländern so wichtig sind. Alles wurde auf Band oder Video aufgenommen, und so hatten sie Stoff zum Weiterarbeiten. Obwohl weder bezüglich Durchhaltevermögen noch Entscheidungskraft mit Europa vergleichbar, sollten sie die Möglichkeit haben: Wir versprachen, beim nächsten Besuch dort einen Kurs über das Bewusste Sterben zu geben.
Der Nachtbus brachte uns nach Merida, zu einem Vortrag an der “Universität der Anden”. Die Fragen der Zuhörer waren gut, und ich gab einem Dutzend von ihnen Zuflucht. Mehrere waren Schüler der bereits erwähnten Lamas, und wieder konnte ich nur staunen, dass diese Lehrer ihre Schüler mit so tief greifenden Mitteln wie dem Großen Siegel – sie nannten ihre Ausgabe davon “Dzogchen” – bekannt machten, ohne den grundlegenden Schutz mitzugeben. Jetzt konnten sie sich im Kraftfeld von Schwarzer Mantel weiterentwickeln.
Der nächste Bus brachte uns durch grüne Berge nach Cucuta, einem berüchtigten Verbrechernest in Kolumbien. Das Hauptgebäude der Stadt ist ein riesiges Gefängnis, und schon am Passschalter stahlen sie einem das Gepäck. Auf dem Busbahnhof versuchten mehrere breitschultrige Herren, sich mit unseren Koffern in alle Richtungen davonzumachen, was ich aber verhinderte. Ein Reisebüro mitten in der Halle verkaufte Tickets für nicht vorhandene Busse, aber nicht an Tomek. Unsere jahrelange Erfahrung unter Hundehändlern in den warmen Ländern zahlte sich vollkommen aus. Abgesehen von der Gewalt gab es hier offenbar nichts, was wir nicht schon aus dem Osten kannten.
Wir schrieben ein Dutzend Briefe, bis der Bus abfuhr. Die Fahrt durch die Nacht wurde unvergesslich. Die Landschaft erinnerte oft an Südschweden, und der Himmel war smaragdgrün und so leuchtend, dass wir nur Teile des Films “Indiana Jones” mitbekamen, der auf Video im Bus gezeigt wurde. In der Hauptstadt Bogotá in zweieinhalb Kilometern Höhe wartete Adriana, eine klassische Schönheit, mit Eduardo und anderen vom Zentrum. Auch hier war die Arbeit im Abstieg begriffen. Khenpo Kathar aus Woodstock war während der letzten zwei Jahre nicht gekommen, und der Lama aus Neapel hatte auch hier für die fehlenden Belehrungen gesorgt.
Die vier Tage in Kolumbien sind mir einige Zeilen wert. Das Land war höchst ungewöhnlich, und wir hatten ganz nahe Freunde und erstklassige Gruppen fast überall. Ein Großteil unserer spanischen Bücher wurde von Eduardo gedruckt. Es war keine westliche “Beinahe-Demokratie”, wie Venezuela es wenigstens bis 1989 war, sondern das gewalttätigste Gebiet der Welt. Man konnte für wenige Dollar einen Menschen umbringen lassen. Der erstaunliche Tagesdurchschnitt von fünfzig bis sechzig Erschossenen hatte mehrere Ursachen: Die inneren waren natürlich, nämlich dass die Leute dachten, ihre Feinde vernichten zu können, was aber nirgendwo gelang … Die äußeren waren, dass das Land nie zur Ruhe gekommen war. Die jeweiligen Verbindungen der Machtgruppen wie Regierungen, Kommunisten, Hersteller von Kokain, Gutsbesitzer, Polizei und Militär hatten sich
Weitere Kostenlose Bücher