Über Bord
sammle ich seine Farblithographien, für mich ist er der genialste und witzigste Zeichner unseres Jahrhunderts. – Aber kommen wir zur Sache! Ich hole jetzt die Tagebücher meiner Mutter und zeige Ihnen, was ich erst kürzlich entdeckt habe.«
Matthias las die verschiedenen Stellen, aus denen Gerd seinen Verdacht ableitete. Außerdem gab es da noch das Foto des gemeinsamen Vaters, das Ellen bereits gesehen hatte und das auch Matthias bekannt vorkam. Zweifel waren kaum mehr möglich. Die beiden Halbbrüder stießen an und gingen zum Du über.
»Meine Mutter war als junge Frau eine kesse Biene«, erzählte Gerd. »Es ist möglich, dass sie deinen oder besser gesagt unseren Vater beim gemeinsamen Chorsingen kennengelernt hat. Was meinst du, sollten wir trotz eindeutiger Hinweise noch einen Gentest machen lassen?«
»Auf jeden Fall«, sagte Matthias. »Man sollte Nägel mit Köpfen machen! Sonst würden meine misstrauischen Geschwister uns vielleicht gar nicht glauben. – Aber erzähl doch von dir, von deiner Jugend, deiner Familie!«
Sein Halbbruder konnte auf eine glückliche Kindheit zurückblicken. Der Mann, den er für seinen Vater gehalten hatte, war zehn Jahre älter als seine Mutter und ein liebevoller und stiller Mensch gewesen. Von ihm hatte Gerd sowohl dieses Haus geerbt als auch seinen berühmten Familiennamen erhalten, denn der Ahnherr seines Vaters war jener Immanuel Dornfeld, nach dem man eine Rebsorte getauft hatte. Seine Eltern hatten sich wohl weitere Kinder gewünscht, aber er war der Einzige geblieben. Nur gelegentlich hatte Gerd das Gefühl, dass mit seiner Herkunft etwas nicht stimmte. Seine Großeltern väterlicherseits hätten ihm wiederholt zu verstehen gegeben, er sei völlig aus der Art geschlagen, und das sei ja auch kein Wunder. Erst jetzt konnte er ihre verletzenden Worte, die er bis heute nicht vergessen hatte, richtig interpretieren. Schule, Studium, Beruf, Heirat, zwei Kinder – alles lief in Gerds Leben weitgehend normal und in der richtigen Reihenfolge. Matthias konnte eigentlich nichts an seinem zehn Jahre jüngeren Halbbruder aussetzen, ja er gefiel ihm auf Anhieb fast besser als die anderen Geschwister.
»Es tut mir leid«, meinte Gerd, »dass ich deine Schwester so überrumpelt habe. Aber ich war selbst sehr aufgewühlt, als ich endlich den Namen und die Adresse meines mutmaßlichen Vaters erfuhr. Wenn ich behutsamer vorgegangen wäre, hätte Ellen wohl weniger ablehnend reagiert. Mit Recht war sie äußerst skeptisch, es fehlte nicht viel und sie hätte mich rausgeschmissen.«
Inzwischen waren sie bei der zweiten Flasche Rotwein angekommen, beide mussten heute nicht mehr Auto fahren. Matthias rief seine verschnupfte Frau an und teilte ihr mit, dass er einen Bekannten getroffen hätte und es etwas später werde.
Die Brüder hatten sich viel zu erzählen und entdeckten weitere Gemeinsamkeiten, unter anderem einen fast neurotischen Zählzwang bis ins Teenageralter. Beim Schwadronieren gerieten sie richtig in Fahrt; Gerd wollte natürlich möglichst viel über seinen unbekannten Vater wissen. Demnächst müsse man ein Familientreffen organisieren, schlug Matthias vor, damit alle den neuen Bruder kennenlernten.
»Allerdings hat sich unser Clan über ganz Deutschland verteilt, unser Bruder Holger lebt sogar seit vielen Jahren in Schottland. Der würde dir sicher gefallen, sein Motto ist: Enjoy the enjoyable! Für einen so wichtigen Anlass wird man ihn und alle anderen sicherlich zusammentrommeln können.«
»Und eure Mutter?«, fragte Gerd. Früher oder später müsse sie wohl oder übel eingeweiht werden, fand Matthias. Aber man wolle es ihr möglichst schonend beibringen.
Gegen Abend kam die Dame des Hauses zurück, staunte über den neuen Schwager und die übermütige Stimmung der leicht bezechten Männer. Matthias glaubte, dass Ortrud die Hosen anhatte, obwohl sie in ihren eleganten Chiffonhüllen so zart und damenhaft wirkte. Da sie die Vorgeschichte ja kannte, hatte sie rasch begriffen, dass hier eine wortwörtliche Verbrüderung stattfand, und schlug vor, gemeinsam essen zu gehen. Bei diesen Worten besann sich Matthias, dass es jetzt wohl genug sei, sprach von seiner unpässlichen Frau und verabschiedete sich. Auf dem Heimweg fielen ihm der Brief und das Aspirin zwar noch ein, aber die Apotheke hatte längst geschlossen.
Seine Frau lag mit leidender Miene auf dem Sofa. »Na endlich!«, sagte sie und hielt die Hand auf. Matthias dachte, die Begegnung mit einem neuen
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