Über Bord
war.
Matthias schnappte sich den Brief und ging los. Dabei kam ihm plötzlich der Gedanke, einen kleinen Umweg zu machen und sich das Haus anzuschauen, in dem sein angeblicher Bruder wohnte. Das Ziel war in zwanzig Minuten zu erreichen, das Wetter schön.
In der Apfelstraße gab es außer einigen Wohn- und Bürogebäuden aus den 70er Jahren nur gutbürgerliche Reihenhäuser aus der Gründerzeit, zumeist der gehobenen Kategorie. Matthias blieb auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen. An der Frontseite war ein Emailschild angebracht: Architekturbüro Junghahn, Schmitt und Dornfeld.
So, so, dachte Matthias, der Typ ist also Architekt. Immerhin gab es auch bei dieser Zunft – wie überall – gutverdienende und brotlose Vertreter. Das gesamte Ambiente sah jedoch gepflegt und ordentlich aus, das frisch verputzte Haus war für drei bis vier Parteien konzipiert, hatte einen kleinen Vorgarten und auf der Rückseite wahrscheinlich einen Hof oder Garten. Eine alte Kastanie auf der Straße machte durch Miniermottenbefall einen kränklichen Eindruck, wie es leider vielerorts und auch vor seiner eigenen Haustür der Fall war.
Ziemlich lange blieb Matthias stehen und machte mit dem Handy ein paar Fotos, die er seiner Schwester Ellen zeigen wollte. Gerade als er sich zum Gehen anschickte, ging die Haustür auf und ein Mann kam heraus. Kurzentschlossen trat Matthias näher, entschuldigte sich und fragte ihn, ob er vielleicht Gerd Dornfeld heiße.
Als der Fremde leicht verwundert bejahte, stellte sich Matthias Tunkel seinerseits vor, und die beiden Männer musterten sich sekundenlang mit gespannter Aufmerksamkeit.
»Kommen Sie doch rein«, sagte Gerd nach kurzem Zögern. »Sie wissen sicherlich, dass ich neulich Ihre Schwester besucht habe. Da sie sich nicht wieder gemeldet hatte, wollte ich nicht als aufdringlich gelten und die Sache vorläufig auf sich beruhen lassen.« Zu Amalias dubiosem Schreiben sagte er nichts.
Gerd schloss die Haustür wieder auf, Matthias folgte ihm durch einen langgestreckten Flur. Die achteckigen hellgrauen Steinzeugfliesen mit dunkelblauem Einleger in der Mitte waren zum Glück nicht durch eine modernere Version ersetzt worden.
»Im Erdgeschoss befinden sich die Büroräume, die Wohnung im ersten Stock habe ich vermietet«, sagte Gerd Dornfeld. »Leider haben wir keinen Lift, Sie müssen leider die vielen Treppen steigen. Als unsere Kinder noch hier waren, haben sie die oberste Ebene bewohnt, jetzt haben wir die Schlafzimmer in den zweiten Stock verlegt und das Wohnzimmer unters Dach.«
Also hat er eine Frau und Kinder, dachte Matthias, und arm wird er auch nicht gerade sein, das alles sieht nach gediegenem Wohlstand aus. Leicht schnaufend stapfte er hinter Gerd die endlosen Stufen hinauf, vor hundert Jahren hatte man noch hohe Geschosse. Auf jeder Etage wurde der Treppenabsatz von zwei schmalen Fenstern mit Bleiverglasung erhellt. Als Gerd schließlich die Messingklinke der obersten Tür herunterdrückte, standen die beiden Männer direkt vor einem hohen Spiegel und mussten unwillkürlich lachen. Beide hatten dünnes rötliches Haar und ein längliches Gesicht mit feinen Sommersprossen, beide gekleidet in ähnlichem Casual Look. Einzig im Gewicht unterschieden sie sich deutlich, der Architekt war um einiges schlanker. Im Grunde brauchte man kein Labor zu bemühen.
»Ich wohne ganz in Ihrer Nähe«, sagte Matthias. »Seltsam, dass wir uns noch nie begegnet sind. Aber Sie wollten gerade das Haus verlassen, ich hoffe, dass ich Sie nicht von Ihren Plänen abhalte…«
»Nicht der Rede wert«, sagte Gerd. »Ich wollte mir bloß eine Zeitung besorgen. Möchten Sie ein Glas Wein oder lieber einen Kaffee? Meine Frau Ortrud ist leider nicht zu Hause, sie hilft heute bei einem Wohltätigkeitsbasar – oder vornehm ausgedrückt: bei einem Charityprojekt.«
Während Gerd den Rotwein holte, sah sich Matthias neugierig um. Man hatte die ganze Etage von der Vorder- bis zur Rückwand in einen einzigen großen Raum verwandelt. Links gab es eine offene Küchenzeile, rechts eine Bibliothek. Auf der Straßenseite schaute man zwar in den kranken Baum, aber an der hinteren Front gab es einen spektakulären Wintergarten, der wohl erst nachträglich eingebaut worden war; von hier fiel der Blick in das lichte Grün eines verwilderten Gartens. Überall hingen Bilder ein und desselben Künstlers. »Tomi Ungerer«, erklärte Gerd und entkorkte die Flasche, »mein absoluter Lieblingsgraphiker. Seit Jahren
Weitere Kostenlose Bücher