Über Bord
Pferdegesicht, nicht so dreieckig wie wir. Papa sagte ja manchmal ihr Katzenköppe zu uns! Am ehesten ist er ein Typ wie Onkel Matthias, der hat auch rötliche Haare und helle Augen.«
In diesem Moment wurden die beiden Schwestern in ihren Überlegungen von Uwe unterbrochen. Er wollte ins Kino gehen und vorher noch etwas Essbares vom Türken organisieren. »Döner macht schöner«, sagte er, weil Amalia sich schüttelte. Sie mochte die Fleischlappen noch weniger als die ewigen Quarkkeulchen.
Als die beiden aufbrachen, stand Großmutter Hildegard an der Gartenpforte, erwiderte Uwes Hallo mit einem akzentuierten Guten Abend und starrte böse auf Ohrring und Nasenstecker, mit denen sich der Freund ihrer Enkelin schmückte. »Wenn’s Mode wird, hängt der sich auch einen Kuhschwanz um den Hals«, brummte sie.
Beim Abendessen waren Hildegard und Ellen allein.
»Jetzt habe ich leider zu viel gekocht«, sagte Hildegard zu ihrer Tochter. »Dein Kind beliebt ja auswärts zu grasen. Mein Essen schmeckt ihr wohl nicht.«
Es gab gebratenen Fleischkäse, Pellkartoffeln und grünen Salat aus dem Garten. Ellen seufzte. Ihre Töchter waren keine dankbaren Kostgänger. Clärchen war mit 18 Vegetarierin geworden und hatte ihre jüngere Schwester im Handumdrehen bekehrt. Während ihres Studiums in Köln entdeckte Clärchen allerdings die japanische Küche, fiel von ihrem Glauben ab und aß rohen Fisch, so oft sie es sich leisten konnte. Amalia wiederum konnte ihrer Schwester den Gesinnungswechsel nicht verzeihen und wurde aus Trotz Veganerin, verschmähte also sämtliche tierischen Produkte, trug nur Schuhe aus Kunstleder und Stricksachen aus Polyester. Aber auch diese Kinderkrankheit, wie es ihre Mutter nannte, wuchs sich allmählich aus. Inzwischen bezeichnete sich Amalia ihrem Uwe zuliebe als Flexarierin, denn er mochte jegliches Fleisch in möglichst großen Portionen. Zwar hielt sie sich bei Schweinesteak und Döner zurück, aber in seiner Gesellschaft aß sie immerhin Fisch und manchmal sogar Huhn.
Um auf ein anderes Thema zu kommen, fragte Ellen ihre Mutter nach den Eßgewohnheiten ihres früh verstorbenen Vaters. Nun seufzte Hildegard.
»Dein Papa war bei unseren Abendessen ein seltener Gast. Als ihr alle noch klein wart, hat er bis in die Nacht hinein gearbeitet. Kurz nach deiner Geburt konnte er die Firma zu sehr günstigen Bedingungen verkaufen, arbeitete daraufhin nur noch sporadisch als kaufmännischer Berater und hatte mehr Freizeit. Aber meine Hoffnung, dass er nun häufiger zu Hause bleiben würde, hat sich bald zerschlagen.«
Ellen fragte nach dem Grund und erfuhr, dass ihr Vater plötzlich zum Vereinsmeier mutierte.
»Er wurde der reinste Hansdampf in allen Gassen, engagierte sich im Gemeinderat, wurde Mitglied im Schützen- und Heimatverein, bei der Angelsportgruppe und im Gesangverein. Meistens hat er mit seinen Kumpeln in irgendeiner Wirtschaft gegessen. Damals haben wir uns oft gestritten, denn ich war mit den Kindern fast immer allein. Wir haben ja sehr früh geheiratet, und sofort stellte sich Nachwuchs ein; irgendwie fühlte ich mich als noch junge Frau wie auf einem Abstellgleis.«
Auf einmal erinnerte sich Ellen, dass es früher zur Entlastung der Mutter eine Hausangestellte gegeben hatte. War das nicht eine Chance, auch einmal an sich selbst zu denken?
»Ja gut, die Käthe half mir schon ein wenig«, sagte Hildegard, »aber ich hätte gern einen Beruf ausgeübt. Dein Vater war in diesem Punkt sehr konservativ. Schließlich sei genug Geld vorhanden, und eine Mutter gehöre ins Haus. Der Mann aufs Pferd, die Frau an den Herd, pflegte er zu sagen.«
Durch die Begegnung mit ihrem angeblichen Halbbruder war Ellen hellhörig geworden, schwang da nicht Kritik an ihrem vorbildlichen Vater mit? Zum ersten Mal war von Streit die Rede! Sie erinnerte sich an Sonntage, an denen die ganze Familie wandern ging und irgendwo in einem Landgasthaus einkehrte, wo es Kochkäse oder Schinkenbrote gab. Immer hatte sich der Vater als lustiger Entertainer erwiesen und seine fünf Kinder mit verrückten Einfällen zum Lachen gebracht. Alles nur Theater? Sonntagsinszenierungen? Keinerlei Alltagsbilder tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Hatte der Papa in Wirklichkeit Freundinnen gehabt, gab es Parallelwelten, weitere Kinder?
Doch jetzt war es Hildegard, die nach einer kleinen Denkpause Fragen stellte.
»Wovon lebt er überhaupt, dieser Mensch?«
Ellen sah fragend hoch.
»Na, das Friesengewächs, mit dem unsere
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