Über Bord
nicht zu begegnen, blieb sie stur im Kerker liegen, wie sie Uwes Zimmer nannte, und ließ sich von ihrem Liebhaber das Essen ans Bett servieren. Einen Haufen Geld oder einen lukrativen Job müsste man haben, schoss es ihr nicht zum ersten Mal durch den Kopf.
»Wenn du dir einen Traumberuf aussuchen könntest, dann welchen?«, fragte sie, wickelte sich das verklumpte Federbett um den nackten Oberkörper und nahm die Kaffeetasse entgegen.
»Ich bin doch völlig zufrieden!«, sagte Uwe. »Was meinst du, wie sich die Leute über mich freuen, wenn sie stundenlang erfolglos mit ihrem Rechner gekämpft haben und ihn am liebsten zum Fenster rausschmeißen würden. Ich bin dann wie der rettende Engel. Und du? Was hast du für Träume?«
»Ich hätte gern studiert, aber dafür braucht man das Abitur. In der Schule hab ich mich nicht genug angestrengt, das finde ich jetzt schade. Zum Beispiel…«, sie ließ ihre Blicke missbilligend schweifen, »…wäre ich gern Innenarchitektin. Meine Mutter wollte am liebsten Schauspielerin werden, aber Oma hat es ihr ausgeredet.«
»Warum?«
»Vielleicht war es ja vernünftig. Als Verwaltungsangestellte verdient sie zwar nicht übermäßig viel Kohle, aber immerhin regelmäßig. Ob sie ein Superstar geworden wäre mit einer Supergage? Ist doch unwahrscheinlich.«
»So bleiben Träume auf der Strecke…«, philosophierte Uwe.
Vierzehn Tage nach seinem Besuch im Labor erhielt Matthias den Anruf des befreundeten Arztes. Gemeinsam mit Gerd machte er sich erneut auf den Weg.
»Na – und?«, fragte er gespannt. »Sind wir nun Halbbrüder?«
» Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Bist du damit zufrieden?«
»Durchaus«, sagte Matthias. »Ich danke dir. Hast du denn auch das Material meiner Nichte analysiert?«
»Natürlich, sogar mehrmals, weil mich das Ergebnis nicht recht befriedigte. Aber ich kam immer wieder zum gleichen Schluss: Deine Nichte ist nicht mit deinem Halbbruder verwandt.«
»Aber genau das haben wir ja kommen sehen! Dieses Biest hat uns betrogen und nicht ihren eigenen Schleim abgeliefert!«, rief Matthias triumphierend.
»Wahrscheinlich doch. Denn mit dir lässt sich durchaus eine gewisse Verwandtschaft ableiten. Ich weiß selbst nicht genau, was das bedeuten soll. Aber es passiert immer wieder, dass bei derartigen Untersuchungen dunkle Familiengeheimnisse ans Licht kommen. Da müsst ihr nun selbst entscheiden, ob ihr noch weiterforschen wollt oder lieber nicht.«
»Selbstverständlich will ich!«, sagte Matthias. »Das ist doch hochinteressant! Aber bist du ganz sicher, dass nicht ein technischer Fehler vorliegt?«
»Man könnte zur Absicherung von deiner Schwester – also der Mutter dieser jungen Frau – auch noch einen Abstrich machen. So würde ich jedenfalls verfahren.«
»Meine Schwester Ellen hat sich in dieser Angelegenheit wenig kooperativ verhalten, ich glaube kaum, dass ich sie hierherlotsen kann. Aber versuchsweise könntest du mir ein Testset mitgeben, vielleicht ergibt sich die Möglichkeit, bei ihr zu Hause einen Abstrich zu machen.«
Der Jugendfreund suchte gleich mehrere Boxen heraus und sagte: »Ehrlich gesagt, interessiert mich euer Problem jetzt selbst ein bisschen! Und selbstverständlich stehe ich jederzeit mit weiteren Tests oder guten Ratschlägen zu Diensten.« Er verneigte sich leicht ironisch.
Matthias bedankte sich und fuhr mit Gerd wieder davon. Unterwegs fing er an zu grübeln. Wenn sein Freund, der immerhin ein erfahrener und renommierter Spezialist war, zu diesem Ergebnis kam, dann musste etwas dran sein. Doch es brachte alle bisherigen Theorien ins Wanken. Da Amalia seine Nichte war, musste sie mit seinem Halbbruder Gerd doch ebenfalls verwandt sein, wenn auch prozentual etwas weniger. Der Arzt hatte ihm Zahlen genannt, die Matthias gleich wieder vergaß – war die Sache bloß eine Rechenaufgabe, die er nicht lösen konnte? Müssen nun alle meine Geschwister getestet werden?, fragte er sich, wurden einige von uns vielleicht adoptiert? Oder hat man eines von uns Kindern direkt nach der Geburt vertauscht? Er erinnerte sich allerdings noch ganz gut an die beiden letzten Schwangerschaften seiner Mutter und auch an die Taufe von Lydia, Holger und Ellen. Wenn man jeden mit jedem vergleichen will, könnten die vielen Laborrechnungen teuer werden, dachte er, aber bis auf Ellen sind wir keine armen Leute.
Gerd sah seinem Bruder die Sorgen an und sagte etwas bedrückt: »Schön, dass wir jetzt Klarheit haben, was uns
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