Über Bord
Ortrud. »Wer kommt mit in die Bar?«
Gerd schüttelte sofort den Kopf, auch Ellen verneinte. Anscheinend dachte Amalia, dass es ihre Pflicht sei, die bewunderte Innenarchitektin zu begleiten. Die beiden stiegen in den Lift, während Gerd und Ellen den Kabinen zustrebten.
»Ich bringe dich noch vor die Haustür«, sagte Gerd. »Wie alt ist deine Tochter eigentlich? Sie wirkt so herrlich jung…«
»Amalia ist 24, aber manchmal noch wie ein Kind.«
»Ich hoffe, es ist dir recht, dass Ortrud dieses Kind abgeschleppt hat.«
»Nun ja«, sagte Ellen gedehnt. »Amalia interessiert sich sehr für ihren Beruf. Deine Frau hat ihr freundlicherweise ein Praktikum angeboten.«
Sie waren fast am Ziel. Gerd schüttelte verwundert den Kopf. »Wie soll das gehen? Ortrud hat seit fünf Jahren keinen Auftrag mehr erhalten. So, da sind wir. Ich wünsche eine gute Nacht.«
Er hielt ihr die Hand hin; nach sekundenlangem Zögern umarmte ihn Ellen, aber diese Geste der Zuneigung wurde nicht ganz so herzlich erwidert, wie sie es sich gewünscht hätte.
Amalia erkannte bald, warum Ortrud die Bar aufgesucht hatte, denn hier war eine der wenigen Örtlichkeiten, wo man qualmen durfte. Draußen war es kühl geworden, drinnen war es warm und verräuchert. Eigentlich war Amalia mit Leib und Seele eine Anhängerin von frischer Luft, aber man musste ja alles einmal kennenlernen. Ortrud bestellte für beide einen exotischen Drink, dessen Namen sich Amalia nicht merken konnte.
Nach einem tiefen Zug und großen Schluck begann Ortrud: »Also, wo waren wir stehengeblieben?«
»Weiß ich nicht«, sagte Amalia.
»Sicher denkst du, dass bei uns zu Hause alles perfekt eingerichtet ist. Aber ich hänge zum Beispiel an meinem ersten selbstverdienten Schreibtisch, obwohl er unpraktisch ist und wackelt. Die Vitrine meiner Oma hielt ich lange Zeit für echtes Biedermeier, bis mir ein Fachmann sagte, dass es eine italienische Fälschung aus den fünfziger Jahren ist; sie bleibt aber trotzdem im Schlafzimmer stehen. Bei Gerd waren die Geschmacksverirrungen allerdings schlimmer, ich habe die Entgleisungen seiner Studentenzeit nach und nach entsorgt.«
»Mein Onkel Matthias war ganz begeistert von eurer Wohnung«, sagte Amalia.
»Vor vielen Jahren«, fuhr Ortrud fort, »beriet ich eine Zahnarztgattin, die ihr neues Haus einrichten wollte. Geld war da, auch die Einsicht, dass Plüschsofas und Palisanderschrankwände nicht mehr schick waren. Die kleine dicke Frau lebte im Konsumrausch der Wechseljahre; ihr Mann ging in Beruf und Hobbys auf, die Kinder waren ausgezogen. Sie entschädigte sich auf materieller Basis, wer könnte das besser verstehen als ich.
Mir tat diese nette Frau ein wenig leid, ich wollte ihr nichts andrehen, woran sie zwei Jahre später keine Freude mehr hatte. Ich wollte auch nicht ganz gegen ihre romantische Mädchenseele ankämpfen, die nach getrockneten Rosen und Beethovenbüsten dürstete. Wir gaben uns beide viel Mühe, ein behagliches und teures Heim zu gestalten, ohne dass es provinziell oder protzig geriet. Der Ehemann interessierte sich nicht für dieses Projekt. Er verdiente hauptsächlich Geld, saß in einigen Ausschüssen, spielte Golf und hatte eine Geliebte. Ich konnte es kaum glauben, aber er sprach seine Frau tatsächlich mit Mutti an.«
Amalia hörte höflich zu und musste plötzlich an Uwe denken. Das war nicht seine Welt, was wusste er schon über das Mobiliar reicher Zahnarztgattinnen! Das Höchste, was ihn an einem solchen Haushalt interessieren würde, wäre wohl ein defekter Computer.
Ortrud zündete sich die nächste Zigarette an und bestellte ein weiteres Getränk. Sie verträgt eine Menge, dachte Amalia, das ist kein gutes Zeichen.
»Hast du eigentlich einen Freund?«
»Natürlich«, antwortete Amalia.
»Klar, du bist ja auch eine kesse Biene. – Wo war ich stehengeblieben?«, fragte Ortrud.
»Bei den reichen Zahnärzten«, antwortete Amalia, schon etwas weniger fasziniert. Und beim Stichwort reich stellte sie fest: »Du hast eine tolle Kette an!«
»Gefällt dir mein Collier? Es stammt von Gerds Mutter, aber ich mag es nicht. Weißt du was, ich schenke es dir, das wird ihn ärgern.«
Amalia erschrak. Sie wollte nichts geschenkt bekommen – die Luxusreise war schon mehr als genug. Auch wollte sie Gerd nicht ärgern, und außerdem passte solcher Schmuck überhaupt nicht zu ihrem Stil. Oder war es nur funkelndes Glas?
»Nett gemeint«, sagte sie steif, »aber ich kann das beim besten Willen nicht
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