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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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getafelt, außerdem hat er vier goldene Streifen am Ärmel. Ein netter Typ, Ortrud himmelt ihn an. Da kommt sie ja schon.«
    Doch Gerds Frau trank nur ihren Tee aus und erklärte, sie habe schlecht geschlafen und müsse sich noch ein wenig hinlegen; von Amalia fehlte jede Spur. Also schlug Gerd vor, mit Ellen einen Rundgang zu machen und den Fremdenführer zu spielen. Er zeigte den großen Saal, in dem die Aufführungen stattfanden und getanzt wurde, die Bibliothek, Bars, Clubräume und den Pool. Ellen erfuhr von einem geübten Kreuzfahrer eine ganze Menge über Schiffe und die Seefahrt.
    »Früher glaubte man, Katzen an Bord brächten Glück, Frauen dagegen Unglück. Keine Ahnung, wieso, denn die Galionsfiguren waren ja oft weiblich und die meisten Schiffe tragen Frauennamen wie unsere MS RENA . Das Heck heißt in der Seemannssprache Achtersteven, wie man im Plattdeutschen ein rundliches Hinterteil nennt. Die Sehnsucht nach einer Frau war natürlich immer groß, und man hat sie durch abergläubische Vorstellungen zu unterdrücken gewusst. Übrigens – eh ich es vergesse –, ihr müsst die Bordkarte immer bei euch tragen, wenn ihr das Schiff verlasst«, belehrte er sie zum Abschluss.
    Schließlich lagen beide auf Deckchairs und schauten aufs graugrüne Wasser hinaus. Es war etwas kühl und windig, und das war wohl der Grund, warum die Liegestühle neben ihnen unbesetzt blieben. Hin und wieder ging ein Filipino auf leisen Sohlen mit einem Putzeimer vorbei.
    »Wenn wir Gibraltar hinter uns gelassen haben, soll es wärmer werden«, meinte Gerd.
    »Schön wäre es, wenn jetzt ein paar Delphine auftauchten«, sagte Ellen träumerisch. Sie hatte auf einmal das Bedürfnis, Gerd wie zufällig zu berühren, wagte aber keine derart plumpe Annäherung. Wir sind zwar keine Geschwister, dachte sie, aber irgendwie doch so nah und vertraut, als würden wir uns schon lange kennen.
    Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Gerd: »Immer wieder muss ich darüber nachdenken, wie seltsam uns das Schicksal mitgespielt hat. Ich habe dir sozusagen deinen bisherigen Vater weggenommen und ihn für mich reklamiert. Wir sind beide mit einem Papa aufgewachsen, der nicht unser leiblicher Vater war, haben es aber zu dessen Lebzeiten nie in Frage gestellt. Ist das nicht höchst merkwürdig, fast wie eine griechische Tragödie?«
    »Und ob«, sagte Ellen. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten, ergriff Gerds herunterhängende Hand und erzählte die Geschichte ihrer Mutter: dass Gerds Vater, der lange auch als der ihre galt – Rudolf Tunkel –, einen gewissen Herrn Dornfeld mit viel Geld bestochen habe, seine schwangere Freundin zu heiraten. Beide Männer hatten sich dabei kein Ruhmesblatt erworben, und Gerd hörte sich den Deal fassungslos an.
    »Jetzt verstehe ich erst, woher meine Eltern die Mittel hatten, sich ein Haus im Frankfurter Westend zu kaufen«, sagte er.
    »Die Villa Tunkel werde ich erben«, sagte Ellen. »Meine Mutter will demnächst beim Notar die Schenkung amtlich machen. Ausgerechnet ich, die ich keine echte Tunkel bin! Verrückt, nicht wahr?«
    Beide schwiegen eine Weile und hingen ihren Gedanken nach. Plötzlich hörten sie es trapsen, und Amalia in Begleitung von vier drahtigen Joggern rannte an ihnen vorbei. Ellen musste lachen, weil ihre Tochter beim Vorüberhuschen noch Zeit fand, ihr eine lange Nase zu drehen.
    »Das ist die Flamenco-Truppe«, sagte Gerd, der schon über alles und jeden Bescheid wusste. »Soviel mir der Bordpianist verraten hat, sprechen sie kein Deutsch und kaum Englisch, doch Amalia wird sich auch nonverbal mit ihnen verständigen!«
    »Geht es deiner Frau nicht gut?«, fragte Ellen.
    »Sie sollte auf jeden Fall etwas weniger trinken«, sagte Gerd und stand auf, seine gute Laune schien plötzlich verflogen. »Hast du vielleicht Interesse an einem Vortrag über die Blütezeit der arabischen Kultur in Andalusien?«
    Ellen wollte gerade sagen: Wo du hingehst, da gehe ich auch hin. Aber diese Worte kamen ihr wie ein biblisches Eheversprechen vor und sie sagte einfach nur: »Nein!«
    Gerd grinste. »Eine ehrliche Antwort. Früher habe ich mir alles angehört, was die Lektoren auf ihr Programm setzten, aber inzwischen könnte ich selbst ein Referat über die Alhambra halten.«
    Das Mittagessen fiel vergleichsweise frugal aus. Ellen bediente sich am Grill, ihre Tochter am Salatbuffet, danach schwirrte Amalia davon. Die ungewohnte Seeluft und die Strapazen der gestrigen Reise hatten Ellen müde

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