Über Bord
bleiverglaste Scheiben aus Zürich, antike Möbel aus England, weißlackierte Wandvertäfelungen aus einem toskanischen Haus – du würdest es kaum glauben, wie originell und edel ihre Skizzen aussahen. Aber im letzten Augenblick wurde das Projekt abgeblasen, weil der gute Mann sein ganzes Geld in den Sand gesetzt hatte.«
»Wie schade«, sagte Ellen.
»Mein Gott, Arbeit besteht nicht nur aus Sternstunden«, sagte Gerd. »Leider hält es Ortrud nicht für nötig, sich mit den tollen Möglichkeiten von Computerprogrammen auseinanderzusetzen. Auch ich habe die schönsten Pläne für Niedrigenergiehäuser in der Schublade – Biotop auf dem Dach, hauseigener Strom, recyceltes Regenwasser –, und letztlich baue ich meistens Betonklötze.«
Am frühen und ungewohnt heißen Nachmittag überfiel Ellen eine bleierne Müdigkeit. Sie hatte eigentlich vor, sich jetzt täglich eine ausgiebige Siesta zu gönnen. Gerd sah es ihr an, geleitete sie zum Terminal des Shuttles und verabschiedete sich. Er wollte trotz der Hitze zu den Gartenanlagen der maurischen Festung Alcazaba hinaufsteigen. Wahrscheinlich hatte er keine große Lust, an Bord auf seine verkaterte Frau zu treffen.
Als Ellen am Nachmittag den Pool aufsuchte, lag Amalia bereits in der Sonne, allerdings ohne ihre Eskorte.
»Na, wie geht’s dir nach der langen Nacht? Wie war es mit den Spaniern? Als Einzige hattest du vier Natives als Fremdenführer, beneidenswert!«
Amalia meinte, es sei nicht besonders toll gewesen. Man sei zwar erst gemeinsam losgezogen, aber dann hätten die Spanier frühere Kollegen besucht und ihr bedeutet, dass man dort kein Englisch spreche. Mit anderen Worten, man habe sie abgehängt.
»Das jüngere Paar ist total verliebt, die haben nur Augen füreinander. Die Sängerin, sie heißt übrigens Ana mit einem N, hat zu Hause einen Mann und einen kleinen Sohn. Der andere Typ ist schwul, wie Ana mir sagte. Außerdem verlassen sie in Barcelona das Schiff, aber bis dahin haben sie noch ein paar Auftritte.«
Das war also nichts, dachte Ellen. Und wie verlief der gestrige Abend mit Ortrud? Amalia wurde jetzt gesprächiger und berichtete ausführlich über die peinliche Situation mit der Kette. Sie sei schon um ein Uhr in ihrer Koje gewesen, aber ihre Mutter hätte bereits geschnarcht.
»Mama, du magst sie nicht, das war mir von Anfang an klar. Dafür hast du Gerd umso tiefer ins Herz geschlossen.«
»Unsinn«, sagte Ellen heftig.
Amalia lachte. »Außerdem habe ich den Verdacht, dass Gerds Einladung gar nicht so großzügig ist, wie wir annehmen. Zwei Wochen lang nur mit Ortrud, das wäre kaum auszuhalten.«
Ihre Mutter griff schleunigst ein anderes Thema auf. »Ich habe schon mehrmals versucht, Oma zu erreichen, aber sie hört das Telefon nicht, wenn sie im Garten ist. Ich werde es am Abend wieder versuchen.«
»Ach Mama, wir sind keine zwei Tage unterwegs, warum willst du dich unbedingt jetzt schon aufregen! Oma ist auch sonst immer allein, wenn wir arbeiten.«
Sie lagen nebeneinander und unterhielten sich leise. Fleißige junge Männer in Siebenachtelhosen, sommerlichen Hemden und Sandalen rückten Liegestühle zurecht, servierten Eistee, breiteten Handtücher aus und spannten Schirme auf. Plötzlich stand Gerd in einem brandneuen Borsalino-Panamahut vor ihnen und erkundigte sich, ob sie Ortrud gesehen hätten; beide bedauerten heuchlerisch. Er wandte sich Richtung Ausgang, um anhand der Bordkartenregistrierung zu erfahren, ob seine Frau das Schiff verlassen habe. Nach einiger Zeit kam er zurück und berichtete aufgebracht, Ortrud sei angeblich mit einem Taxi nach Granada gefahren.
»Das sind mindestens hundert Kilometer!«, wetterte er. »Ganz abgesehen vom Geld, das das kostet, ist es doch wieder mal eine typische Schnapsidee! Um 18 Uhr legt das Schiff ab, was soll ich machen, wenn sie nicht zurück ist! Und was will sie dort überhaupt, die Alhambra haben wir bereits zweimal besichtigt!«
Er lief wieder davon, und Amalia grinste.
»Das käme dir doch sehr gelegen, wenn wir ohne Ortrud weiterschippern…«
»Halt den Mund«, sagte Ellen. »Der arme Gerd hat wirklich nichts zu lachen!«
Kurz vor sechs standen die Passagiere erwartungsvoll an der Reling, um das immer wieder spannende Ritual Leinen los! zu verfolgen. Der rote Teppich war bereits wieder eingerollt, und die Lorbeerbäumchen, die man vor der Gangway aufgestellt hatte, waren schon längst wieder an Bord gebracht worden, die Hafenarbeiter lungerten gelangweilt neben den
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