Über Bord
der Kirche bestaunte. Sie saßen auf einer niedrigen Mauer, der kleine Platz wurde von hohen Orangenbäumen beschattet. Gerd notierte auf einem kleinen Block, dass die Bauphase 254 Jahre gedauert hatte. Als er hochsah, fiel sein Blick auf einen Bettler.
»Findest du nicht auch, dass der arme Kerl aussieht wie von Picasso gezeichnet?«
Ellen gab dem bärtigen Mann, der auf Krücken herumhinkte, einen Euro, den sie immer für den Einkaufswagen in der Tasche hatte. Kurz darauf erspähte sie eine lebende Statue. Der ganz in Schwarz gekleidete Engel verneigte sich huldvoll, als sie eine weitere Münze herauskramte.
»Living dolls«, sagte Gerd. »Wir werden noch viele davon antreffen – silberne Nixen, blaue Gnome, steinerne Ritter und Marsmenschen –, da kannst du schnell arm werden.«
Sie ließen sich treiben und kamen an einem kleinen Markt vorbei.
»Was ist deine Lieblingsblume?«, fragte Gerd.
»Rittersporn. Die blaue Blume der Sehnsucht«, sagte Ellen.
Er sah sich suchend um, nichts Blaues weit und breit. Ganz spontan griff er in einen Eimer mit scharlachfarbenen Rosen, denn der Blumenstand hatte sonst nur eingefärbte Chrysanthemen zu bieten. Er wollte eine einzelne, voll erblühte Rose und die Brieftasche herausziehen, aber Ellen hinderte ihn daran.
»Ist doch Quatsch«, sagte sie und wurde ein bisschen verlegen. »Bis wir wieder an Bord sind, ist sie hinüber. Essen wir lieber ein Málaga-Eis, das muss jetzt sein!«
Noch nie hatte sie ein besseres Eis gegessen, aber vielleicht lag es auch an Gerds Gesellschaft.
Er konnte ihr viel erzählen, zum Beispiel, dass Málaga die sechstgrößte Stadt Spaniens und der Hafen einer der ältesten am Mittelmeer war.
Plötzlich wechselte er das Thema und fragte: »Wann ist Amalia eigentlich aus der Bar zurückgekommen?«
Ellen wusste es nicht, sie war ja bereits eingeschlafen. Gerd mochte es ebenso ergangen sein, doch im Gegensatz zu ihr schien er sich Sorgen zu machen.
»Gibt es da ein ernsthaftes Problem?«, fragte sie vorsichtig und erfuhr, dass Ortrud zwar schon immer gern tief ins Glas geschaut habe, seit dem Tod ihrer Zwillingsschwester vor drei Jahren aber eine hemmungslose Trinkerin geworden sei.
»Ich hatte die Hoffnung, dass ihr ein Tapetenwechsel guttut, schließlich fühlte sie sich an Bord immer besonders wohl. Sie hatte auch fest versprochen, sich in Gegenwart unseres Sohnes und seiner Freundin zurückzuhalten. Nicht bedacht habe ich, dass sie hier zu jeder Tages- und Nachtzeit Zugang zu Alkoholika hat und das leider auch auskostet. Und mir persönlich geht es gegen den Strich, ständig den Aufpasser zu spielen und ihr – womöglich noch vor Publikum – das Glas wegzunehmen.«
»O je«, sagte Ellen, »es tut mir leid, dass unsere Gegenwart keinen positiven Effekt hat. Wie können wir dir helfen?«
»Vielleicht war es gar nicht so falsch, dass Amalia mit ihr in die Bar ging. Ortrud sucht sich nämlich im Handumdrehen einen zweiten Schluckspecht, der auch kein Ende finden kann. Leider sträubt sie sich hartnäckig gegen einen Entzug und sieht nicht ein, dass es eine Krankheit ist.«
Ellen sah ihn mitleidig an und kam zu dem Schluss, dass ihn seine Frau zwar nervte, Gerd aber trotzdem zu ihr stand und sich verantwortlich fühlte.
»Beruflich läuft bei ihr schon lange nichts mehr«, klagte er. »Egal, wie erfolgreich oder auch anstrengend der jeweilige Auftrag war, sie hat sich während der Arbeit stets zusammengenommen und keinen Tropfen angerührt. Dieses Regulativ fehlt jetzt.«
»Amalia glaubt, Innenarchitektin sei der schönste Beruf der Welt«, sagte Ellen. »Aber ich kann mir denken, dass man viele Kompromisse eingehen muss.«
»Wenn es nur darum ginge – es ist heutzutage verdammt schwer, in einem kreativen Beruf ausreichend zu verdienen. Es gibt so viele junge Leute mit gutem Abitur, Studium und zahlreichen Praktika, die noch lange vom Geldbeutel ihrer Eltern abhängig sind. Ein Realschulabschluss und eine Lehre sind heutzutage keine schlechte Voraussetzung für eine gesicherte Anstellung. Amalia sollte sich das gut überlegen.«
»Manchmal bin ich ja selbst ganz froh, dass ich keine arbeitslose Schauspielerin bin«, sagte Ellen. »Aber deine Frau hat es doch geschafft, sie hat sicherlich tolle Ideen!«
»In ihrer Glanzzeit hatte Ortrud großartige Visionen. Einmal sollte sie für einen berühmten Regisseur ein charmantes, aber in die Jahre gekommenes Landhaus einrichten. Sie stellte sich das so vor: alte Fliesen aus Neapel,
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