Über Bord
annehmen. Erzähl doch weiter…«
»Ich lege dir mein Collier jetzt um, du musst dich mal im Spiegel betrachten, dann änderst du sofort deine Meinung. Übrigens sah ich dir sehr ähnlich in meiner Jugend, wirklich – du könntest meine Tochter sein.«
Was soll das nun wieder?, fragte sich Amalia und hätte am liebsten die Flucht ergriffen.
Aber Ortrud hatte den Schmuck bereits wieder vergessen und sagte: »Ich wollte doch die Geschichte vom Zahnarzt zu Ende erzählen. Zu der Housewarming Party wurde ich natürlich eingeladen, Gerd hatte keine Zeit. Die Gäste waren fast alle etwas älter als ich und hatten es im Leben zu etwas gebracht. Der Hausherr legte den Arm um meine Schulter – was er nur tat, weil ich jünger und schlanker war als seine Frau, nicht etwa aus Sympathie – und stellte mich verschiedenen Leuten vor. Mit leichter Ironie gab er bekannt, dass er mir die ganze Pracht der neuen Einrichtung zu verdanken habe. Irgendwie distanzierte er sich vom Geschmack seiner Frau, ohne allerdings eigene Vorstellungen zu haben. Wir beide sollten uns jetzt ein bisschen über die Preise unterhalten, meinte er und zog mich ins Schlafzimmer. Was ich mir bei diesen harten Futonbetten gedacht hätte, fragte er, stieß mich unsanft auf die Matratze und wollte mir an die Wäsche. Im Nebenzimmer dreißig Gäste und seine Ehefrau! Amalia, davon weiß Gerd zum Glück nichts, ich vertraue dir das nur zur Warnung an, damit du die Schattenseiten meines Berufs kennenlernst.«
»Schon gut«, sagte Amalia, »nun bin ich im Bilde. Ich bleibe also Arzthelferin und lege mich jetzt aufs Ohr!«
»Das ist recht, mein Schatz. Ich werde auch bald aufbrechen. Vorher werde ich mir aber noch ein klitzekleines Betthupferl genehmigen.«
Ohne noch eine Sekunde zu zögern, stand Amalia auf und überließ die Zechschwester ihrem Schicksal.
14
Ellen schlief wie ein satter Säugling in der Wiege, das leise Schaukeln und das monotone Motorengeräusch hatten sie eingelullt. Früh am Morgen hatte dieser gemütliche Zustand ein Ende. Leise, um Amalia nicht zu wecken, schlüpfte sie aus dem Doppelbett und schlich ans Fenster. Anscheinend lag die MS RENA bereits vor Anker, denn sie schaute auf den Hafen und ein riesiges Containerschiff, das gerade beladen wurde, auf blaue und rote Kräne, Laufkatzen, die sich ständig bewegten, und den leuchtend klaren Himmel des Südens. Málaga – wie schön war bereits dieses Wort, es erinnerte an Dessertwein, an Rosinen, an Eis.
Ihre Tochter schlief noch fest; Ellen ging ins Bad, duschte und zog sich an. Dieser heitere Morgen war zu schade, um ihn im Bett zu verbringen. Aber sollte sie ganz allein frühstücken? Bei ihrem Inspektionsgang entdeckte sie Gerd, der an der Reling stand und das Treiben am Hafen beobachtete. Ein Hauch von würzigem Aftershave stieg ihr in die Nase.
»Guten Morgen, unsere beiden Damen schlafen wohl noch«, sagte er. »Hast du schon Kaffeedurst, oder sollen wir warten?«
Ellen bestellte sich ein Käseomelett, Gerd ein weich gekochtes Ei, beide tranken frisch gepressten Orangensaft und waren sich einig, dass Lachs am frühen Morgen nicht nach ihrem Gusto war. Im Hause Tunkel wurden gekochte Eier stets geköpft, nun beobachtete Ellen fasziniert, wie Gerd die Schale behutsam aufklopfte und die einzelnen Mosaikstückchen sorgfältig abzupfte.
»Wie habt ihr den Tag heute geplant?«, fragte Ellen. »Amalia will mit dem Flamenco-Ensemble an Land gehen. Die Sängerin scheint als Einzige etwas Englisch zu sprechen, na ja – junge Leute verständigen sich schon irgendwie.«
»Ortrud hat sich eigentlich für den Ausflug nach Marbella angemeldet, aber dafür ist es schon fast zu spät – der Bus geht in zehn Minuten, und sie liegt noch in den Federn. Aber ich werde den Teufel tun und sie aufwecken…«
»Und was hast du vor?«, fragte Ellen.
»Ich wollte ein wenig durch Málaga streifen, ohne Führung und ohne festen Plan«, sagte Gerd. »Wenn du möchtest, können wir gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen.«
Ellen beeilte sich mit dem Frühstück. Da Ortrud den Bus verpasst hatte, würde sie sich bestimmt an ihren Mann klammern und mit ihm an Land wollen. Also machte sich Ellen lieber schleunigst startbereit.
»Mittags wird es sicherlich sehr heiß«, sagte sie. »Wir sollten den nächsten Shuttle in die Stadt nehmen.«
Zuerst besichtigten sie wie brave Touristen die mächtige Kathedrale, wo Gerd das schöne Chorgestühl bewunderte, während Ellen die subtropische Vegetation vor
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