Über Bord
Vorstellungen aufnötigen.«
Ortrud zündete sich eine Zigarette an und fuhr fort: »Nach der Heirat habe ich meinen Beruf leider aufgegeben. Doch als die Kinder selbständig wurden, habe ich einem von Gerds Bauherrn ein wenig geholfen, sein neues Haus optimal einzurichten, was mir zu seiner vollen Zufriedenheit gelang. Er empfahl mich weiter, und bald hatte ich eine Handvoll Kunden.«
»Und jetzt?«, fragte Ellen.
»Nun, wir sind älter geworden. Gerd arbeitet nicht mehr rund um die Uhr und ich natürlich auch nicht. Doch wir haben immer noch zu tun, von faulem Rentnerdasein kann noch lange nicht die Rede sein.«
»Mein Traumberuf!«, sagte Amalia. »Leider habe ich das nicht rechtzeitig begriffen.«
»Aber Mädchen, in deinem Alter ist es doch nicht zu spät, noch einmal etwas Neues zu beginnen! Möchtest du vielleicht ein Praktikum bei mir machen?«
»Sehr gern, doch ich habe eine volle Stelle als Arzthelferin. Ich kann mich nicht für längere Zeit beurlauben lassen.«
Gott sei Dank, sie ist vernünftiger, als ich zu hoffen wagte, dachte Ellen.
Endlich ließ sich jetzt die Sonne blicken, und es wurde mit einem Schlag recht warm. Wie gemächliche Seekühe entstiegen zwei Senioren dem Pool. Das Paar trocknete sich nur oberflächlich ab, hüllte sich fast synchron in weiße Bademäntel, ließ sich auf Liegestühlen nieder und wendete sich euphorisch der Sonne zu. Es dauerte nicht lange, da nahten die vier Spanier in knapper Badekleidung und ölten ihre schönen Körper ein. Der jüngere Adonis drückte seiner Partnerin noch schnell zwei Pickel am Rücken aus, dann aalten sie sich wohlig auf ihren Handtüchern. Alle wollen sie ganz schnell braun werden, dachte Ellen. Und Amalia wird in spätestens fünf Minuten neben ihnen liegen – womit sie recht hatte.
Ortrud stand auf. Sie wolle jetzt in ihre Suite gehen, denn bald schon müsse man sich für den heutigen Galaabend feinmachen. Erst als sie allein war, traute sich Ellen in die Bibliothek, wo sie allerdings nur wildfremde Menschen antraf.
So hatte sie ihre Tochter noch nie gesehen: Amalia steckte in einem kurzärmeligen Kostüm von Katjas Mutter, in dem sie sehr erwachsen, ja gediegen wirkte. Türkis stand ihr gut, die edle Dupionseide changierte ein wenig. Ellen staunte über ihr Kind. Beide traten vor den Spiegel und fanden sich wunderschön und äußerst fremdartig.
»Fast wie Aliens! Verkleiden macht wahnsinnigen Spaß«, sagte Amalia. Ellen nickte: Das war sicherlich das Schauspielerblut, das sich bemerkbar machte.
Auch Ortrud hatte sich herausgeputzt. Sie steckte in einem silbergrauen Hosenanzug, das Top tief dekolletiert, am Hals funkelte eine Kette aus ovalen Amethysten.
»Donnerwetter«, sagte Gerd, der sich in einem dunklen Anzug dazugesellte. »Was habe ich doch für ein Glück, von drei Grazien umrahmt zu werden!«
»Verschwende deinen Charme nicht zu früh«, sagte Ortrud. »Der Galaabend hat noch nicht begonnen. Außerdem solltest du doch das Dinnerjacket anziehen, wo bleibt die Fliege?«
»Ich wollte dich nicht mit einem Smoking an das Raucherzimmer erinnern.«
»Wenn du das witzig findest! Ich finde es zum Mondanheulen.«
Amalia und Ellen waren peinlich berührt, dass Ortrud den Esstisch abrupt verließ. Erst als die anderen ihre Vorspeise bereits aufgegessen hatten, kam sie wieder herein.
»Wir sollten nicht zu sehr trödeln«, mahnte Amalia. »Um zehn fängt der Flamenco an.«
Man beeilte sich also und war schon um halb zehn im großen Saal, wo Tanzmusik zu hören war. Einige Paare drehten sich nach allen Regeln der Kunst. Amalia staunte. Sie wusste zwar, dass es hier anders zuging als in einer Disko, aber sie hatte bisher nur im Film gesehen, wie man sich schwungvoll im Wiener Walzer wiegte.
Ortrud suchte die Plätze aus, ein Kellner nahm Bestellungen auf. Ellen entging nicht, dass Gerd seine Frau mahnend fixierte, als sie einen Bourbon Sour orderte. Punkt zehn begann das Programm, die einzelnen Künstler wurden vorgestellt, der Kapitän hielt eine Rede, der Pianist spielte Albéniz und de Falla, um auf den morgigen Tag in Málaga einzustimmen. Schließlich traten die Spanier auf, zwei Männer und eine Frau tanzten Flamenco, eine andere sang. Amalia geriet fast in Ekstase, rief olé, olé und klatschte, bis ihr die Hände weh taten. Um zwölf war das Programm zu Ende.
Trotz ihrer ausgiebigen Siesta fühlte sich Ellen todmüde und wollte so schnell wie möglich zu Bett.
»Jetzt brauche ich dringend einen Absacker«, meinte
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