Über Bord
schwitzenden Touristen lustig. Leider gibt es heutzutage viel zu wenig echte Originale. Was die mir alles erzählt haben, das muss ich unbedingt in meinem Logbuch aufschreiben! In diesem Punkt sind Gerd und ich uns ja sehr ähnlich – alles Wichtige wird notiert.«
Gerd und Ellen tauschten einen blitzschnellen Blick.
»Was haben sie dir denn für einen Bären aufgebunden?«, fragte Gerd.
»Es ging nicht um Bären, sondern um den besten Freund des Menschen sowie um wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse. Für Tierpsychologie habe ich mich schon immer interessiert. Aber besonders rührend fand ich das Seemannsgrab dieses Hundes, da kann man direkt neidisch werden!«
»Wenn du dir eine Seebestattung wünschst, solltest du das beizeiten testamentarisch festlegen oder zumindest in deinem Reisetagebuch vermerken«, spottete Gerd und machte sich über den Rehrücken her, sparte auch nicht an den handgeschabten Spätzle, den Preiselbeeren und der samtigen Morchelsauce, die ihm auf das weiße Hemd tropfte.
Nach einem missbilligenden Blick seiner Frau meinte er: »Wenn ich mir sonst auch nicht viel aus Luxusreisen mache, das Essen hier ist einfach umwerfend, und es ist mir egal, wenn ich ein paar Pfund zunehme.«
Ortrud schüttelte verständnislos den Kopf und griff das Thema der Tierbestattung wieder auf. »Als meine Schwester und ich noch klein waren, haben wir in unserem Garten einen Friedhof angelegt. Zuerst ging es nur um einen erstarrten Mistkäfer, es folgte ein halb verwester Frosch und der Goldhamster einer Freundin, dann fanden wir eine verendete Amsel, und schließlich waren wir stolz, immer weitere Tierarten unter einem Holzkreuz zu bestatten. Es ging so weit, dass wir unserer Mutter ein gefrorenes Grillhähnchen klauten, das sie als Sonntagsessen vorgesehen hatte. Ein Huhn fehlte noch in unserer Sammlung.«
Ellen war froh, dass nicht von Mäusen die Rede war. »Gut, dass Amalia nicht hier ist«, sagte sie, »zwar ist sie keine echte Vegetarierin mehr – häuft sich beim Bordfrühstück den Teller voll mit Scampi, weil eine solche Gelegenheit nie wiederkäme –, aber tote Tiere sind nicht ihr Ding.«
»Ich habe morgens fast gar keinen Appetit, zu Hause frühstücken wir nie miteinander«, sagte Ortrud. »Und mein lieber Gerd ist auch in diesem Punkt ziemlich langweilig: Kaffee, ein Marmeladenbrötchen und höchstens mal ein weiches Ei.«
»Da du ja nie dabei bist, ahnst du nichts von meinen Champagner- und Kaviarorgien«, sagte Gerd und berührte bei den letzten beiden Silben unterm Tischtuch Ellens Oberschenkel.
»Ich geh’ mal an die frische Luft«, sagte Ortrud. »Es dauert ja noch eine Weile, bis das Dessert serviert wird.« Sie griff nach dem Täschchen mit den Zigaretten und stand auf.
»Anscheinend hatte sie doch keine Sangria im Glas«, sagte Gerd. »Sie ist völlig nüchtern und hat den exzellenten Rotwein überhaupt nicht angerührt. Als ich in unsere Kabine kam, war sie übrigens schon dort und mit ihrer Abendtoilette beschäftigt.«
»Hast du ihr erzählt, dass wir zusammen an Land waren?«
»Nicht so direkt, ich erwähnte nur, dass wir uns zufällig getroffen hätten. Morgen sind wir in Barcelona, was habt ihr geplant?«
»Amalia schaut sich gern in teuren Einrichtungs- und billigen Warenhäusern um, aber am liebsten scheint sie mit den Künstlern herumzualbern.«
»Kennst du diese phantastische Stadt? Die Gaudí-Häuser und die Basilika Sagrada Familia ? Das alles würde ich dir sehr gern zeigen!«
Ellen war noch nie in Barcelona gewesen, auch der Name Gaudí sagte ihr nichts.
»Antoni Gaudí war ein katalanischer Architekt, lebte von 1852 bis 1926 und ist der bekannteste Vertreter des katalanischen Modernismus, vergleichbar mit unserem Jugendstil. 1883 begann er mit dem Bau der berühmten Kirche, ja von 1914 bis zu seinem Tod hat er nur noch daran gearbeitet.«
»Diese Zahlen werde ich niemals behalten«, sagte Ellen lachend. »Aber ich freue mich, wenn du mir alles zeigst, was du selbst gern sehen willst. Wird uns Ortrud begleiten?«
»Sie ist mit ihrem neuen Hüftgelenk viel zu schlecht zu Fuß. Sie hätte natürlich regelmäßig zur Krankengymnastik gehen sollen und hat sich gedrückt. Aber vielleicht will sie trotzdem mit«, sagte er und drehte den Kopf zur Glastür, denn da war sie auch schon. Draußen waren ihr offensichtlich die Hundemediziner wieder begegnet.
»Ich kann es gut verstehen, dass auch Tiere unter Depressionen leiden«, sagte Ortrud.
Gerd war skeptisch.
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