Über Bord
»Schließlich ist sie Innenarchitektin.« Aber meine Freundin ist sie noch lange nicht, dachte sie und drehte sich leicht verärgert zur Blaskapelle um, die das übliche Abschiedskonzert schmetterte. Auf dem darüberliegenden Deck erspähte sie Gerd, der sich mit einem der freundlichen Filipinos unterhielt. Mit der Ausrede, den besseren Blick von oben zu haben, begab sie sich schnurstracks an seine Seite. Zufällig sah sie unten am Kai die vier Flamenco-Tänzer stehen und heftig winken.
»Werden wir morgen in Marseille wieder…«, begann sie etwas atemlos und bemerkte jetzt erst, dass Ortrud dicht daneben auf einem Deckchair lag.
Gerd reagierte nicht, sondern seine Frau: »Mein Mann fragt gerade den ahnungslosen Matrosen nach der Gesamtlänge der MS RENA , Gerd hat immer nur eines im Kopf – Zahlen, die er sich zwanghaft notieren muss. Dafür spricht er so gut wie kein Französisch, wahrscheinlich kann er noch nicht mal eine Bouillabaisse bestellen. Vielleicht sollte ich dich nach Marseille begleiten.«
Ellen erschrak, das hatte ihr gerade noch gefehlt. »Wahrscheinlich bleibe ich morgen an Bord«, sagte sie prophylaktisch. »Meine Füße tun ziemlich weh. Außerdem muss ich dringend Postkarten schreiben.«
Sie bemerkte, dass Gerd zwar zuhörte, aber sich mit dem Filipino weiter auf Pidgin-Englisch unterhielt. Irgendwie fühlte sie sich überflüssig, aber Ortrud deutete gebieterisch auf den leeren Liegestuhl neben sich.
»Herumstehen ist nicht gut für wunde Füße«, sagte sie und musterte geringschätzig Ellens Pantoffeln. »Es gibt übrigens nicht nur an Land interessante Erlebnisse. Heute habe ich eine originelle alte Dame kennengelernt, die schon 43 Kreuzfahrten mitgemacht hat und dadurch einen enormen Rabatt bekommt. Hat sie aber gar nicht nötig, denn sie ist wahnsinnig reich. War fünfmal verheiratet, davon dreimal geschieden und zweimal verwitwet, und mit jeder neuen Ehe wuchs ihr Vermögen. Eventuell soll ich ihr ein plüschiges Boudoir einrichten, denn sie hat einen total versauten Geschmack. Hier gibt es Leute wie in einem amerikanischen Kitschfilm!«
»Kannst du sie mir mal zeigen?«, fragte Ellen unwillkürlich.
»Beim Abendessen wirst du sie sehen. Ein Wesen – halb Mensch, halb Mumie – sitzt zwei Reihen hinter uns am großen Tisch bei meinen Hundefreunden«, sagte Ortrud. »Meistens trägt sie schwarzen Samt, Pfauenfedern im Haar und überdimensionale Klunker, oft klopft sie mit einer Zigarettenspitze aus Elfenbein an ihr Glas. Mich nennt sie Kindchen und den Kellner Schätzchen ! Ich habe sie in der Boutique getroffen, dort solltest du dich auch mal umschauen. Schicke Sachen, alles duty free. Ich komme gern mit und berate dich.«
Das gepunktete Sommerkleid ihrer Schwägerin, das Ellen heute trug, war zwar sicher nicht billig gewesen, fand aber anscheinend bei Ortrud keine Gnade.
Ellen freute sich auf das Abendessen, das dem Meer gewidmet war. Nach dem Duett von sautierten Jakobsmuscheln und Riesengarnelen bestellten sich alle ein Filet vom Wolfsbarsch mit Mangold und Kartoffelperlen. Amalia spitzte sich auf den Nachtisch – pochierte Birnen in Schokoladensauce. Leichtsinnigerweise verriet sie, dass sie mit den verbliebenen Künstlern die Bar aufsuchen wollte.
»Da schließe ich mich an«, sagte Ortrud. »Nach einem solchen Essen braucht man einen Absacker.« Sie stand auf, um zwischendurch an der Reling zu rauchen, Amalia nutzte die Gelegenheit, um ebenfalls abzutauchen. Gerd und Ellen blieben noch sitzen, tranken Espresso und probierten winzige Pralinen, die in einer Etagere gereicht wurden.
»Es wundert mich etwas, dass die Sänger mit ihren empfindlichen Stimmen in diese verräucherte Bar gehen«, sagte Gerd. »Und deine Tochter ist doch eher ein Naturkind, das sich am liebsten in der Sonne aufhält.«
Ellen sah ihre Chance gekommen. »In angenehmer Gesellschaft lässt jeder mal seine Prinzipien sausen«, sagte sie. »Leider brauche ich jetzt auch ein Pflaster! Unterm Tisch habe ich meine spitzen Schuhe bereits ausgezogen, weil die Füße so schmerzen. Würdest du mir bitte das Verbandskästchen zurückbringen?«
»Dein Wille ist mir Befehl, bin gleich wieder da«, sagte Gerd und wollte aufspringen, aber Ellen hielt ihn am Hosenbund fest. Hier am Esstisch und vor aller Augen könne sie doch sowieso nicht ihre Füße verarzten, er solle doch in Ruhe seinen Espresso trinken und bitte nachher in ihre Kabine kommen. Weder ein verständnisinniges Nicken noch ein konspiratives
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