Über Bord
von ihren Künsten sehen, bemerkte aber dafür, wie ein kindlicher Langfinger Gerds Brieftasche aus der Gesäßtasche angeln wollte. Geistesgegenwärtig und gerade noch rechtzeitig schlug sie ihm auf die Pfoten und wunderte sich ein wenig, dass ein so weitgereister Mann wie Gerd die simpelsten Vorsichtsregeln ignoriert hatte.
»Du hast mir zwar nicht das Leben gerettet, aber die Freude an dieser Reise«, sagte er. »Der ganze Spaß wäre mir verdorben, wenn die Kreditkarte futsch wäre. Wie kann ich das je wieder gutmachen?«
»Ich wüsste schon, wie…«, sagte Ellen.
Gerd lächelte verlegen: »Ich bin kein Jüngling mehr!«, sagte er. »Aber du darfst dir etwas anderes wünschen!«
Ja, was denn sonst?, dachte Ellen und schaute nachdenklich auf das südliche Ende der Ramblas, wo auf einer hohen Säule ein riesiger Kolumbus mit ausgestrecktem Arm aufs Meer wies.
»Hol mir den Kerl vom Sockel!«, sagte sie.
19
In der Kabine traf Ellen endlich einmal wieder ihre braungebrannte Tochter, die gerade die Haare gewaschen hatte, bäuchlings in Unterwäsche vor dem Fernseher lag und sich einen Sandalenfilm reinzog. Ellen stellte den Ton ab und wollte hören, wie Amalia den Tag verbracht hatte.
»Es wird immer besser«, sagte Amalia. »Die Tänzer und die A-cappella-Sänger haben sich angefreundet, wir sind eine richtige Clique geworden. Außer den beiden Flamenco-Mädels und mir sind es nur Typen, kannst dir ja vorstellen, wie ich umworben werde.«
»Und wie viele sind vom anderen Ufer?«, fragte Ellen.
»Höre ich bei diesem verklemmten Ausdruck so etwas wie Vorurteile heraus? Außer zweien, denke ich, sind alle Heteros, und der schwule Tänzer ist der Netteste. Da er kein Englisch spricht, drückt er seine Witze pantomimisch aus, zum Kranklachen. Leider muss die Flamenco-Truppe jetzt das Schiff verlassen, wir haben schon ausgiebig Abschied gefeiert. Ich habe jede Menge Fotos gemacht, soll ich sie dir zeigen? Wir posieren alle mit einem roten Rettungsring, auf dem MS RENA steht.«
»Ein andermal. Hast du eigentlich Uwe schon angerufen?«
»Er hat sich freiwillig gemeldet. Denk mal, er hat Oma zum Einkaufen gefahren!«
»Das wundert mich allerdings«, meinte Ellen. »Sie hat noch genug Gemüse im Garten und reichlich Vorräte. Außerdem mag sie keine Männer, ihre wunderbaren Söhne natürlich ausgenommen.«
»Oma ist schon okay, sie hat halt ein paar Marotten. – Übrigens hat Uwe es wohl nur gemacht, um sich wieder bei mir einzuschleimen. Er sagt, wenn wir zurückkommen, gibt es eine Überraschung. Mama, hörst du überhaupt zu? Du bist irgendwie verändert! Ist es vielleicht ein gewisser Gerd Dornfeld, der dich für alles andere blockiert? Darf ich dich daran erinnern, dass er verheiratet ist?«
»Hör auf mit dem Quatsch«, sagte Ellen. »Das Schiff fährt gleich los, wollen wir nicht an Deck gehen?«
»Dafür musst du dir allerdings Schuhe anziehen. Mein Gott, wie sehen denn deine Füße aus! Da muss ich wohl mein geballtes medizinisches Fachwissen einsetzen, aber wo ist der Verbandskasten?«, fragte Amalia. »Der lag doch hier in meiner Schublade.«
»Hab’ ich ausgeliehen,«, sagte Ellen und schlüpfte in weiße Frotteelatschen. »Nun komm endlich!«
Auf dem Deck wurde Ellen sofort von Valerie und Ansgar in Beschlag genommen, und Amalia ging ihre Sänger suchen. Ellen hätte gern nach Gerd Ausschau gehalten, aber es durfte nicht zu sehr auffallen.
»Hast du heute die Bordzeitung gelesen?«, fragte Ansgar. »Aus einem sibirischen Zirkus sind ein Dachs, ein Affe und ein Papagei entflohen, weil sie durch den Dauerregen depressiv wurden. Selbst in den fernsten Regionen dieser Erde wird man langsam auf die psychischen Erkrankungen domestizierter Tiere aufmerksam.«
»Habt ihr einen schönen Tag im Zoo verbracht?«, fragte Ellen höflich. »Erstaunlich, dass ihr euren Beruf auch im Urlaub nicht vergesst. Mich könnten keine zehn Pferde dazu bringen, ein spanisches Einwohnermeldeamt zu besichtigen!«
»Natürlich betrachten wir Zootiere mit anderen Augen als ein Laie«, sagte Valerie. »Fast alle Tiere sind hochgradig gestört, besonders der Pongo pygmaeus – ein todunglücklicher Borneo-Orang-Utan, der hat mich regelrecht erschüttert. Und deine Freundin Ortrud war auch ganz mitgenommen. Sie ist übrigens eine äußerst begabte Beobachterin, man merkt sofort, dass sie ein Augenmensch ist. Sie hat sogar Zeichnungen angefertigt und nicht wie alle anderen bloß fotografiert.«
»Ja, ja«, sagte Ellen.
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