Über Bord
Siegfried Andersen!«, sagte Ellen. »Ich habe nicht die nötigen Mittel für solche Recherchen. Aber wo wir gerade dabei sind, unsere Familiengeheimnisse voreinander auszubreiten – warum habt ihr keinen Kontakt mehr mit eurer Tochter?«
Sie biss sich auf die Lippe, fürchtete mit dieser Frage zu weit gegangen zu sein. Aber Gerd war nicht beleidigt, sondern gab bereitwillig Auskunft.
»Das Ganze ist bereits einige Jahre her. An Ortruds 50. Geburtstag kam es zum ersten Mal zu einer schrecklichen Szene, denn sie war – vielleicht aus Weltschmerz über ihr Alter – nicht mehr zurechnungsfähig. Wir hatten eine große Party, Ortrud trank sich am Anfang in eine übermütige, leicht überdrehte Stimmung, aber mit zunehmendem Alkoholkonsum wurde sie ordinär, konnte nur mit Mühe daran gehindert werden, auf dem Tisch zu tanzen und sich die Kleider vom Leib zu reißen. Schließlich kippte ihre Ausgelassenheit völlig um, sie fing an zu heulen und aggressiv zu werden. Unsere Gäste waren peinlich berührt und verabschiedeten sich. Ich wollte Ortrud ins Bett bringen, aber sie schlug um sich wie eine Wilde. Schließlich hatte ich sie doch ins Schlafzimmer geschafft und ließ sie erst einmal allein, um aufzuräumen. Unsere Kinder waren natürlich Zeugen der fatalen Situation. Als unsere Tochter ins Schlafzimmer trat, um ihre laut weinende Mutter zu beruhigen, wurde sie von einem Wurfgeschoss getroffen, einem schweren Kristallglas, das wahrscheinlich mir galt. Franziska trug eine Platzwunde am Kopf davon und musste zum Nähen in die chirurgische Ambulanz gebracht werden.«
»Aber das konnte deine Tochter doch dir nicht ankreiden!«, meinte Ellen.
»In den nächsten Jahren kam es noch zu weiteren Exzessen; als Ortruds Zwillingsschwester starb, wurde es ganz schlimm. Franziska redete ständig auf mich ein, ich solle Ortrud in eine Entziehungsklinik einweisen lassen. Da ich aber gegen Ortruds Willen so etwas nicht machen wollte, hielten meine Kinder mich für einen Waschlappen. Unsere Tochter wollte mich sogar dazu überreden, mich scheiden zu lassen. Ich sei ein Co-Alkoholiker und würde durch mein lasches Verhalten dazu beitragen, dass Ortrud immer weiter säuft. Man müsse hart durchgreifen, damit sie zur Besinnung komme.«
»Und warum trennst du dich nicht von ihr?«, fragte Ellen mit klopfendem Herzen.
»Schließlich habe ich die Verantwortung für meine Frau, die wird man nicht so einfach los«, sagte Gerd. »Ohne mich würde sie völlig vor die Hunde gehen. Und es gibt ja auch immer wieder friedliche und harmonische Phasen, in denen ich die Hoffnung habe, dass sie nicht rückfällig wird. Abgesehen davon sprechen auch finanzielle Gründe gegen eine Trennung.«
Beide tranken Saft – jugo natural de naranja – und keinen Alkohol, obwohl Ellen nichts gegen einen kühlen Weißwein gehabt hätte. Sie war nachdenklich geworden und traute sich nicht, weitere neugierige Fragen zu stellen. Finanzielle Gründe? Gerd sah ihr an, dass sie grübelte, und fuhr mit weiteren Erklärungen fort.
»Dein Ziehvater hatte meinem Ziehvater genug Geld gegeben, damit der sich das Haus im Frankfurter Westend kaufen konnte. Aber man darf das nicht mit den heutigen Preisen vergleichen, es war damals ein ziemlich heruntergekommenes Objekt und günstig zu haben. Niemals hätte ich die Mittel gehabt, dieses Haus in einen gepflegten Zustand zu versetzen. Als junger Angestellter verdient ein Architekt nicht allzu viel, und auch heute gehöre ich nicht zu den Stars meiner Zunft. Als ich Ortrud heiratete, war sie ebenfalls arm wie eine Kirchenmaus, aber wir hatten immerhin von Anfang an eine mietfreie Wohnung in meinem Elternhaus. Und dann geschah das Unerwartete: Ortrud erbte von einem kinderlosen Onkel mehrere Äcker im Frankfurter Stadtteil Oberrad, die inzwischen Bauland geworden waren. Durch den Verkauf haben wir uns eine goldene Nase verdient und konnten auch das eigene Haus ganz nach unseren Wünschen sanieren, renovieren und umbauen lassen.«
So ist das also, dachte Ellen. Ortrud hat das Geld und damit das Sagen. Mitleidig legte sie ihre Hand auf Gerds Unterarm und tröstete mit einer Binsenweisheit: »Das Leben schreibt nicht immer nur schöne Geschichten! Ich habe allerdings auch nicht besonders viel Glück in der Liebe gehabt, mein Mann hatte mit der Tochter von Matthias – also meiner Nichte – eine Affäre. Das tat weh.«
Gerd sah auf die Uhr. »Komm, lass uns jetzt in Richtung Shuttlebus gehen«, sagte er. »Mir brummt
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