Über Bord
»Ich denke, man kann den Viechern durchaus ein paar Unarten austreiben. Etwa panischen Hunden, die bei jedem Knall davonlaufen, oder aggressiven Beißern, ewigen Kläffern, triebhaften Rüden, die an jedem Tischbein markieren, und so weiter, aber auf keinen Fall kann man ihr Seelenleben analysieren! Im Übrigen ist Trauer über den Verlust einer Bezugsperson eine normale Reaktion und noch lange keine Depression. Deine Hundefänger sind Scharlatane und Betrüger!«
»Du redest schon wieder über Dinge, von denen du keine Ahnung hast«, sagte sie scharf. »Ich werde jedenfalls mit Valerie und Ansgar den Zoo von Barcelona besuchen, den berühmten Parque Zoológico. Dort setzen wir uns ganz gemütlich vors Affenhaus und schauen mal, was wir von unseren nächsten Verwandten lernen können. Deinen Gaudí kannst du dir an den Hut stecken.«
Ortrud grinste und nippte an einem Espresso, während Gerd sich die Ziegenkäseterrine mit Zitronenpfeffer schmecken ließ.
Ellen schob ihr Eis mit Marillenkompott im essbaren Töpfchen aus Zuckergespinst beiseite; die Unterhaltung wurde ihr immer unangenehmer. Sie entschuldigte sich, stand auf und behauptete, sich für ein Klavierkonzert im großen Saal zu interessieren. Doch dort lauschte sie nur kurz auf die ihr unverständliche Musik des 21. Jahrhunderts, dann verzog sie sich in ihre Kemenate. Lange ruhte sie angezogen auf dem Bett und träumte mit offenen Augen von weiteren glücklichen Tagen. Erst als Amalia müde von ihrer Landpartie zurückkam, entschloss Ellen sich zum Zähneputzen und Ausziehen. Der Bericht ihrer Tochter musste warten.
Amalia lag am nächsten Morgen noch in den Federn, Ortrud wohl auch, als Ellen und Gerd bereits aufbrachen. Er hatte für zehn Uhr ein Taxi bestellt – um der Touristenmeute zuvorzukommen. Ellen fand es wunderbar, schon wieder einen Tag nur mit ihrem Liebsten zu verbringen. Sie ließen sich zum Zentrum der Stadt fahren, dem Verkehrsknotenpunkt Plaça de Catalunya, von wo sie zu Fuß in die moderne Planstadt laufen konnten. Gerd wollte ihr zuerst die berühmte Kirche und natürlich auch andere Modernismo-Gebäude zeigen. Doch angesichts der riesigen Schlange vor dem Kassenhäuschen beschlossen sie, die Sagrada Familia gemeinsam mit vielen hundert Touristen nur von außen zu bestaunen.
»Scheint immer noch nicht fertig zu sein«, meinte Ellen missbilligend.
»Nun, sie nimmt auch eine Fläche von 17822 Quadratmetern ein, das wird noch Jahre dauern, bis alles vollendet ist«, sagte Gerd. »Insgesamt sind achtzehn spindelförmige Türme im gotischen Stil geplant, zum Teil über hundert Meter hoch! Im Übrigen ließ sich Gaudí stets von der Natur beeinflussen, deswegen werden wir jetzt mal die Fassaden unter die Lupe nehmen.«
»Aber bitte nicht auflisten, wie viele Heilige, Chamäleons, Schildkröten, Posaunenengel, Schlangen, Tauben und Palmen du entdeckst!«, sagte Ellen und schaute so lange senkrecht in die Höhe, bis ihr der Hals wehtat. »Haben Architekten eigentlich immer einen Zollstock und einen Taschenrechner dabei?«
Er verneinte, behauptete aber stolz, ausgezeichnet schätzen und noch besser rechnen zu können, außerdem halte er wichtige Zahlen zur Sicherheit immer auch schriftlich fest; für Sprachen sei eher seine Frau zuständig. Und jetzt gehe es weiter, vielleicht habe man mehr Glück mit anderen Gaudí-Häusern, die teilweise mit wunderschöner, bunter Keramik verziert seien. Unbedingt sehen solle man die Casa Milà und die Casa Batlló.
Als Ellen nach einem nicht enden wollenden Marathon ebenfalls Blasen an den Füßen bekam, machten sie sich wieder auf in Richtung Pier, um auf der breiten Allee Las Ramblas eine kleine Pause einzulegen. Gerd war seit Jahren nicht mehr hier gewesen und stellte mit Bedauern fest, dass die Ramblas zu einer Art Ballermann verkommen waren. Überall wurde Sangria aus gewaltigen Humpen getrunken, die Preise waren purer Nepp, ein Restaurant lag neben dem anderen, unzählige Zeitungsbuden verkauften Lose, Straßenmusikanten sorgten für die Geräuschkulisse, alle zehn Schritte posierte ein regungsloser Pantomime. Die Vogelhändler früherer Jahre waren von Vogelpfeifenverkäufern abgelöst worden, die unnatürlich zwitschernde Töne erzeugten. Nur der traditionelle Blumenmarkt zeugte noch vom Charme der guten alten Zeit. Um eine Akrobatengruppe, die mit Saltos und Flickflacks das Publikum anlockte, drängte sich ein Kreis gaffender Touristen. Weil große Leute vor ihr standen, konnte Ellen wenig
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