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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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allmählich der Schädel! Vor dem Essen möchte ich mich noch etwas frischmachen.«

18

    Wir wären ein ideales Paar, dachte Ellen, während sie neben Gerd zur Haltestelle lief. Eine so tiefe Verbundenheit und Sympathie bei gleichzeitiger Verliebtheit hatte sie bisher mit keinem Mann erlebt. Allerdings war der Moment zum Austausch inniger Zuneigung noch nicht recht gekommen, denn Gerd fuhr mit den Anklagen gegen seine Frau fort, was Ellen als weiteren Vertrauensbeweis ansah.
    »Nicht nur unsere Tochter hat sie vergrault, auch mit unserem Sohn gibt es massive Probleme. Ortrud war immer eifersüchtig auf seine Partnerinnen, wobei sich der Junge diesbezüglich sowieso etwas schwertat. Sie hetzte gegen alle Freundinnen. Ich zweifle nicht daran, dass seine letzte Liebe ihn hauptsächlich wegen Ortrud verlassen hat. Vielleicht ist es ganz gut, dass Ben bei dieser Seereise nicht dabei ist. Er hätte die Aussetzer seiner Mutter nicht ertragen.«
    Etwas lieber hätte Ellen jetzt gehört, dass Gerd im Nachhinein sogar froh über die Absage seines Sohnes war, weil sie ja sonst gar nicht mit von der Partie gewesen wäre. Gemeinsam schritten sie langsam die Gangway hinauf, ließen ihren Bordausweis einscannen und näherten sich Ellens Kabine.
    »Hast du vielleicht ein Pflaster für meine Füße?«, fragte Gerd. »Ich hatte dummerweise keine Socken an, jetzt habe ich zwei große Blasen!«
    »Amalia hat für unsere Reiseapotheke gesorgt, bestimmt hat sie auch an wunde Füße gedacht«, sagte Ellen und öffnete die Kabinentür. Gerd blieb im Eingang stehen und sah zu, wie sie in der Nachttischschublade ihrer Tochter kramte.
    »Voilà!«, sagte Ellen triumphierend und überreichte Gerd ein flaches Blechkästchen mit Verbandszeug.
    »Danke. Und auch für den neuen Hut«, sagte er und wollte gehen.
    »Apropos Hut«, sagte Ellen mutig. »Wolltest du mir nicht eigentlich einen Kuss geben, als dein Sombrero davonflog?«
    Sie sahen sich sekundenlang prüfend an, dann schloss er die Tür und Ellen in die Arme. Sein Kuss war anfangs etwas zaghaft, wurde aber zusehends kühner, und plötzlich gab es kein Halten mehr. Ellen war schon halb ausgezogen, als sie die Tür hastig wieder aufriss und außen das Schildchen Bitte nicht stören anbrachte. Amalia und Ortrud waren zwar noch an Land, doch eine Stewardess konnte erscheinen, um die Handtücher auszuwechseln.
    Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Mehr oder weniger freiwillig wurde Gerd ausgezogen, und dann kam auch er endlich zur Sache. Nicht nur bei Ellen gab es Defizite.
    Schließlich lagen sie erschöpft nebeneinander, und jeder hing seinen Gedanken nach. Ellen schoss es durch den Kopf, dass die Wechseljahre auch etwas Gutes hatten: Immerhin konnte man nicht mehr ungewollt schwanger werden.
    Was allerdings Gerd empfand, war so verworren und vage, dass er es schwerlich in Worten hätte ausdrücken können. In jungen Jahren hatte er sich in solchen Situationen eine Zigarette angezündet, da er aber seit langem Nichtraucher war, lautete sein erster Satz: »Den Rehrücken sollten wir trotzdem nicht verpassen!«
    Ellen hätte lieber die ganze Nacht mit Gerd im Bett verbracht. Aber sie war vernünftig genug, ihm seine verstreuten Kleider zu reichen und sich selbst den schneeweißen Bademantel mit der gestickten Inschrift MS RENA überzuziehen, den sie bisher noch nie getragen hatte.
    »Wir sehen uns in einer halben Stunde beim Essen«, sagte Gerd und küsste sie. Dann war Ellen allein und dachte an nichts anderes als an eine baldige Wiederholung.
    Das Ehepaar Dornfeld saß bereits am Tisch, als Ellen etwas verspätet dazustieß, Amalias Platz blieb leer. Außer dem üblichen Mineralwasser hatte Gerd bereits eine Flasche Château Mont-Redon bestellt. Ortrud sah blendend aus, die Kosmetikerin hatte gute Arbeit geleistet. Ihr blassgrünes Abendtwinset aus Tüll war mit Ranken und Blüten aus Perlen und Pailletten bestickt, um den Hals trug sie ausgefallenen Modeschmuck aus den 30er Jahren: ein Collier aus lila, rosa und türkisen Glaskugeln. Ellen konnte kaum die Augen von so viel Glanz abwenden. Überdies war Ortrud in bester Stimmung, charmant und ausgesprochen frisch und heiter. Die Entenconsommé hatte sie bisher nicht angerührt.
    »Drollige Leute, diese Hundepsychologen«, erzählte sie lachend. »Ich habe mich königlich amüsiert! Zum Glück laufen sie nicht wie die Irren von einer Sehenswürdigkeit zur anderen, sondern bleiben an einem hübschen Plätzchen sitzen und machen sich über die

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