Über Bord
er und deutete auf ein stattliches Schloss, ganz ohne die räumlichen Ausmaße aufzulisten. Nach einigen Runden kreuz und quer durch den Ort fuhr der Bus einen bewaldeten Berg zum Castillo de Bellver hinauf, wo es einen weiten Panoramablick auf die Stadt und das Umland geben solle. Als man die bebauten Flächen verlassen hatte, stieg Ellen der Geruch des ersehnten Mittelmeerurlaubs in die Nase: Harz, aromatische Kräuter, Pinien, Salz, der Vanilleduft von blühendem Oleander. Sie war hingerissen, lehnte sich an Gerds Schulter, hob die Nase in den Fahrtwind und schnüffelte wie ein Drogenhund in die warme Mittagsluft hinein. Wahrscheinlich sah sie so glücklich aus, dass der gerührte Gerd endlich zu einem richtigen Kuss ansetzte, wobei ihm aber durch die wild entschlossene Kopfbewegung der neue Hut davonflog und weit hinunter ins Tal segelte.
Sie spürte sofort, wie ihn dieses Missgeschick verstimmte, und bat darum, ihm einen dritten Hut kaufen zu dürfen. »Als winzige Aufmerksamkeit für die wunderschönen Tage, die wir dir verdanken! Und außerdem wissen wir ja bereits, wo der Hutladen ist.«
Gerd stimmte zu, obwohl er es nicht lustig fand, schon zwei Stunden später im gleichen Geschäft wieder einen Strohhut zu kaufen. Zufälligerweise trafen sie dort Amalia im Gefolge der Künstler, die für ihren nächsten Auftritt fünf identische Hüte aussuchten, die sie Kreissägen nannten. Sie schienen in bester Laune zu sein. Amalia sagte ihrer Mutter, man solle nicht an Bord mit dem Essen auf sie warten. Da das Schiff erst am späten Abend ablege, wollte sie mit der Künstlergruppe noch so lange wie möglich an Land bleiben.
Allmählich wurden Gerd und Ellen durstig. Sie sahen sich gerade nach einem Café um, als Ellen auf einmal ihren Kavalier am Gürtel packte und in einen Hauseingang zog.
»Ich sehe was, was du nicht siehst!«, tuschelte sie. Es waren Ortrud und die Hundepsychiater, die ganz in der Nähe in einem Straßenbistro saßen.
»Kannst du erkennen, was sie trinkt?«, fragte Gerd.
»Ich glaube Sangria«, log Ellen etwas boshaft. Fragend sah sie Gerd an, wollte er sich jetzt trotzdem zu seiner Frau gesellen? Doch er nahm sie wunschgemäß bei der Hand und führte sie in eine Seitengasse.
Als sie ein hübsches Plätzchen gefunden und ihre Getränke bestellt hatten, mussten sie sich weiterhin leise unterhalten, denn in der Nähe befanden sich andere Passagiere der MS RENA . Amalia hatte an einige besonders auffällige Gäste bereits Spitznamen vergeben: Da gab es Frau Stör und Herrn Karpfen, den Bajuwaren, die Mannschaft vom Katzentisch, den Glitzermann, die Außerirdische, das rote Toupet, die Russenmafia und Dicky, das Kind.
Doch Gerd wollte nicht über die Mitreisenden lästern, sondern möglichst viele Informationen über seinen unbekannten Vater erhalten, und Ellen bemühte sich, ihre Erinnerungen geordnet und präzise zu formulieren.
»Dass er nicht mein leiblicher Papa war, hat er mich niemals spüren lassen, ich glaube, bei dir lief es so ähnlich mit deinem Ziehvater. Rudolf Tunkel war ein guter Unterhalter, konnte eine ganze Tischrunde zum Lachen bringen, vor allem aber uns Kinder. Matthias und du – ihr seht ihm zwar äußerlich recht ähnlich, aber ihr seid ernster, solider, gediegener. Wahrscheinlich habt ihr das von eurem gemeinsamen Großvater geerbt, der ein seriöser Fabrikant und Geschäftsmann gewesen sein soll.«
»Na, ganz so seriös, wie du denkst, bin ich auch wieder nicht«, sagte Gerd. »Jeder von uns hat ja bekanntlich eine Leiche im Keller.«
Ellen hätte gern Näheres über Gerds Leiche erfahren, aber sie fragte lieber nicht nach, sondern berichtete weiter über seinen Vater, auch über dessen Schattenseiten.
»Dein leiblicher Vater konnte zwar nicht ahnen, dass meine Mutter prompt von diesem Komödianten geschwängert wurde, aber allein die Idee, die eigene Frau so hereinzulegen, ist eigentlich infam. Was meinst du?«
»Mein Papa war also ein Teufel«, sagte Gerd.
»Um Himmels willen, ganz bestimmt nicht! Meine Mutter hat mir erzählt, dass er wohl seinen frühen Tod geahnt hat, weil er in seinen letzten Jahren einen so großen Lebensdurst und eine solche Abenteuerlust verspürte. Sie hat ihm verziehen, also sollten wir das auch tun.«
»Möchtest du nicht auch mehr über deinen Erzeuger wissen? Ich könnte dir meinen Detektiv empfehlen. Sicherlich ist es möglich, Nachkommen oder Geschwister des Schauspielers ausfindig zu machen. Wie hieß er noch gleich?«
»Carl
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