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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Aufschlag ging im Wellenrauschen fast unhörbar unter.
    Für den Bruchteil einer Sekunde sah Ellen noch etwas Dunkles auf der Wasseroberfläche treiben, dann nur noch ein gurgelndes schwarzes Loch und ein paar zusätzliche Schaumkronen, während das Schiff unbeirrt auf seinem festgelegten Kurs weiterpflügte. Wie hypnotisiert starrte Ellen mindestens fünf Minuten lang in die Tiefe, dann übermannte sie ein überwältigendes Gefühl des Entsetzens. Zitternd, besudelt, durchnässt ging sie wieder hinein. Nur ihr Kreislauf, nicht ihr Verstand, setzte für einen Moment aus, und sie ließ sich schwer atmend auf einem der Sessel nieder. Doch bald hatte sie sich wieder unter Kontrolle und tat das Notwendige. Als erstes befestigte sie geistesgegenwärtig den Bitte-nicht-stören- Anhänger vor der Kabine, eilte dann ins Bad und wischte mit Toilettenpapier die stinkenden Brocken von ihrer Bluse, wusch sich Hände und Gesicht und wollte danach nichts wie raus.
    Doch wenn sie einmal die Tür hinter sich zugezogen hatte, konnte sie ohne Bordkarte nicht wieder hinein. Also galt es einen klaren Kopf zu bewahren und die Spuren zu beseitigen. Als Erstes das zweite Weinglas: Ellen schüttete den Rest Armagnac ins Waschbecken, spülte gründlich und stellte das abgetrocknete Glas wieder an seinen Platz. Dann kam sie auf die clevere Idee, Ortruds Schuhe mitten in das Erbrochene vor die Reling zu werfen. Fingerabdrücke? Obwohl es wahrscheinlich übertrieben war, nahm sie ein ungebrauchtes Handtuch und polierte damit die Türklinken, die Stuhllehne, zum zweiten Mal das Glas und weitere Gegenstände, von denen sie nicht ganz sicher war, ob sie damit in Berührung gekommen war.
    Auf Ortruds Nachttisch lag ein Tagebuch. Es juckte Ellen zwar in den Fingern, es einzustecken, aber das wäre eine gnadenlose Dummheit. Als letzte Tat öffnete sie mittels Handtuch erneut die Balkontür und ließ Wind und Regen herein, dann schlich sie davon. Es war halb vier, zum Glück schien niemand so spät auf den Gängen herumzugeistern. Die Filipinos würden zwar sicherlich bald mit dem Putzen beginnen, und was, wenn sich ein Liebhaber aus einer fremden Kabine stahl? Doch sie kam unbeobachtet in ihrem Zimmer an. Konnten es die Nachbarn hören, wenn sie jetzt Wasser in die Wanne laufen ließ? Lieber erst zu einer normalen Stunde baden, beschloss sie und war einen Augenblick lang fast stolz, dass ihr Hirn noch so logisch und klar arbeiten konnte. Außerdem meldete sich jetzt ein zaghaft keimendes, aber angenehmes Gefühl des Triumphes: Sie hatte gewonnen, Gerd gehörte ihr.
    Doch zu echter Siegesfreude kam es nicht, denn der Schock ergriff allmählich von ihr Besitz. Ellens Kraft hatte zwar noch ausgereicht, um ihre verschmutzten Sachen auszuwaschen und einen Pyjama anzuziehen, aber dann lag sie schlotternd und schluchzend unter der Decke und überlegte, ob sie ihr restliches Leben im Knast würde verbringen müssen. Auf einmal spürte sie auch, wie stark das Schiff rollte und wie übel ihr dadurch wurde, obwohl sie gar nicht so viel getrunken hatte. Ich habe einen Nervenzusammenbruch, ich habe Fieber, bin krank und muss sterben, dachte sie, das ist die gerechte Strafe.
    Hinzu kamen große Erschöpfung und Müdigkeit, an erholsamen Schlaf war jedoch nicht zu denken. Wozu hatte ihre Tochter eine Reiseapotheke zusammengestellt? Ellen fand zwar keine Schlaftabletten, aber immerhin ein Medikament gegen Seekrankheit und eine Packung mit dem bewährten Baldrian-Hopfen-Präparat. Ellen versank in einen unruhigen Dämmerzustand mit quälenden Albträumen.

22

    Die arme Amalia wachte etwas verstört in einem fremden Bett auf, neben ihr lag der Bariton und schnarchte. Inzwischen war es bereits zehn Uhr am Vormittag, irgendetwas musste man jetzt in die Wege leiten, um pünktlich nach Monaco zu kommen. Also stand sie erst einmal auf, ging ins Bad und versuchte, sich durch kaltes Wasser munterzumachen.
    Die Geschichte ihrer Großmutter fiel ihr ein, die nach einem One-Night-Stand schwanger wurde. Und wenn es ihr nicht anders ging? Es gab keinen großen Unterschied zwischen Schauspielern und Sängern, beide gehörten zum fahrenden Volk und machten sich davon, wenn es ernst wurde. Amalia hatte nie die Pille genommen, sondern Uwe zur Verhütung verpflichtet, was bisher auch gut geklappt hatte.
    Sie überlegte, wie das heute Nacht eigentlich gelaufen war, und rüttelte ihren Beischläfer. Er drehte sich jedoch böse grunzend zur Seite und schlief weiter. Soll er, dachte sie,

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