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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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guttat.
    Die Suite der Dornfelds war etwas größer als Ellens eigene und hatte statt eines Bullauges eine breite Glasfront nach außen. Auf ihr Klopfen hatte Gerds Frau, die in einem marineblauen Jogginganzug steckte, sofort die Kabinentür geöffnet. Nach kühler gegenseitiger Begrüßung kauerte sich Ortrud mit untergeschlagenen Beinen auf das Sofa, vor sich ein schmutziges Glas und eine fast leere Flasche Rotwein.
    »Hatte Gerd heute viel Stress, oder musste er sich körperlich besonders anstrengen?«, fragte Ortrud ohne einleitende Höflichkeitsfloskeln.
    »Nun ja, wir sind ein paar Stunden in St. Tropez herumgelaufen, aber es war gar nicht mehr so heiß wie in den letzten Tagen. Der Mistral hat wohl die kühlere Jahreszeit eingeleitet, so einen Wetterumschwung verträgt auch nicht jeder«, plapperte Ellen leicht verlegen. »Wo steckt Gerd überhaupt?«
    »Unten auf der Krankenstation. Du kannst nicht wissen, dass er vor zwei Jahren einen Herzinfarkt hatte und deswegen vorsichtig und ängstlich ist. Schon auf unserer letzten Kreuzfahrt verbrachte er einen Tag lang auf der Krankenstation, weil er sich nicht wohl fühlte. Als ich von unserem Ausflug zurückkam, lag er im Bett, machte einen jämmerlichen Eindruck und hatte Schmerzen im linken Arm. Wahrscheinlich hat er sich übernommen…«
    »Um Gottes willen, ist es etwa wieder ein Infarkt?«
    »Ich habe ihn sofort zum Schiffsarzt gebracht. Der hat zwar im EKG nichts nachweisen können, aber angeblich zeigt sich das manchmal erst am nächsten Tag. Der Doktor hat ihn vorsichtshalber zur Beobachtung im Krankenzimmer einquartiert, eine Schwester ist in der Nähe und wird gelegentlich nach ihm schauen.«
    Ellen war erleichtert, auch wenn die Gefahr noch nicht ganz gebannt zu sein schien. Sie mochte gar nicht daran denken, dass Gerd auf hoher See sterben könnte. Andererseits hätte der Schiffsarzt bereits beim kleinsten Risiko einen Hubschrauber geordert und den Patienten in die nächste Klinik überführen lassen. Ellen konnte sich ausrechnen, dass es für das Renommee eines Kreuzfahrtschiffes nicht gerade positiv war, wenn die Passagiere starben.
    Auch Ortrud schien nachzudenken, schließlich erhob sie sich schwerfällig. War sie es oder der Boden, der ein wenig schwankte, als sie ins Fach über der Minibar griff, ein zweites Glas nahm und das restliche Schlückchen für Ellen eingoss?
    »Keine Angst, du kriegst noch mehr, ich habe Reserven gefunden«, sagte sie. »Der Arzt hat versprochen, sofort anzurufen, wenn es doch noch bedrohlich werden sollte. Natürlich kann ich mich jetzt nicht einfach aufs Ohr legen und schlafen.«
    Ich auch nicht, dachte Ellen und leerte ihr Glas. Ortrud torkelte an den Kleiderschrank und zog eine Flasche Armagnac unter der Wäsche hervor.
    »Gerd hat zwei davon für Gäste gekauft, vom Preis her müsste er ausgezeichnet sein. Der wurde nämlich zehn Jahre lang in Eichenholzfässern gelagert.« Mit geübtem Griff öffnete sie die beutelförmige Flasche, schenkte beiden das Weinglas voll und trank ihres in einem Zug aus.
    »Hätte ich es geahnt, wäre ich niemals mit Valerie und Ansgar losgezogen«, klagte sie sich an. »Mit keinem Gedanken wäre ich darauf gekommen, dass Gerd mich gerade heute dringend gebraucht hätte. Was bin ich doch für eine schlechte Ehefrau! Ich selbst hatte es nämlich richtig nett in einem zünftigen Weingut, wo wir Ratatouille gegessen haben. Alles war so unbekümmert und lustig, Ansgar und ich haben uns ausgemalt, wie man ein Hunderennen für Pudel, Halbpudel und Nichtpudel veranstalten könnte…« Sie lachte schrill und hemmungslos, um kurz danach in Tränen auszubrechen.
    Solche Weiber haben wir besonders gern, dachte Ellen, total besoffen, hysterisch, voller Selbstmitleid und ohne jegliche Disziplin! Wie konnte Gerd das nur so lange aushalten! Und warum hat er mir nichts von seinem Herzinfarkt erzählt? Eine Weile war es ganz still im Raum.
    »Muss er regelmäßig Medikamente einnehmen und hatte es vielleicht heute vergessen?«, fragte Ellen möglichst sachlich, worauf Ortrud sich die Tränen abwischte und relativ nüchtern antwortete.
    »Ja, ich glaube ASS , darin ist er aber gewissenhaft. Nach dem Klinikaufenthalt hatte man ihm eine Rehakur verschrieben, dort hat er alles brav gemacht, was verlangt wurde. Seitdem ging es ihm eigentlich immer gut, aber er wird mehr und mehr zum Hasenfuß. Wahrscheinlich ist alles rein psychisch bedingt – ein Anfall von Hypochondrie – und als Angsthase ein Fall für

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