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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Spuren fotografieren müssen«, hieß es. »Wenn ein Passagier vermisst ist, wird dies aktenkundig. Wann wurde Ihre Frau denn zuletzt gesehen? Lassen Sie uns nicht gleich von einer Katastrophe ausgehen: Wir suchen jetzt erst einmal jede Ritze ab. Es wäre uns allerdings lieb, wenn das unter Einhaltung größter Diskretion geschieht, damit unsere Gäste nicht beunruhigt werden. Hängen Sie Ihre Befürchtungen bitte nicht an die große Glocke.«
    Als Gerd mit Ellen allein war, bat er sie, mit Valerie und Ansgar Kontakt aufzunehmen. Sie waren schließlich mehrmals mit Ortrud zusammen gewesen und konnten eventuell über ihren Gemütszustand Auskunft geben. Er wollte inzwischen das Tagebuch seiner Frau durchgehen, ob sich ein Hinweis darin fände.
    Die Psychologen stritten gerade wieder wie Hund und Katz. Ellen erklärte ihnen die Situation, wobei sie immer mehr in ihrer Rolle als Detektivin aufging.
    »Du sagtest doch, dass sich Ortrud übergeben hat«, meinte Valerie. »Man kann also davon ausgehen, dass sie seekrank war, sich womöglich über die Brüstung beugte, einen Schwindelanfall hatte und über Bord stürzte.«
    »Blödsinn, bei stürmischem Wetter kotzt doch jeder lieber ins Klo«, sagte Ansgar.
    »Vielleicht wollte sie rauchen«, sagte Ellen und fühlte sich endlich wie eine begnadete Schauspielerin.
    »Suizidale Absichten hat sie uns gegenüber nie geäußert«, sagte Valerie. »Aber sie hat eindeutig zu viel Alkohol konsumiert, was durchaus auf eine latente Depression schließen lässt.«
    »Und was macht eigentlich dein Fräulein Tochter?«, fragte Ansgar. »Ich hörte, dass sie gestern mit den Sängern an Land geblieben ist. Vielleicht treibt sich Ortrud ebenfalls irgendwo an der Côte d’Azur herum und lacht sich ins Fäustchen über unsere Ängste.«
    »Das kann nicht sein«, widersprach Valerie. »Sie ist gemeinsam mit uns zurückgekommen, außerdem habe ich sie im Fahrstuhl getroffen, als das Schiff den Hafen längst verlassen hatte. Übrigens legen wir gerade an, schaut mal – die vielen Hochhäuser!«
    Ansgar ermahnte seine Frau, sich allmählich für den Landgang fertigzumachen, sie wollten nämlich unbedingt das Ozeanographische Museum besuchen, für das sich Gerd ebenfalls interessiert hatte. Ellen stand etwas verunsichert an der Reling und schaute den üblichen Landemanövern zu, gelegentlich blickte sie auch hinauf in den Himmel, ob dort Amalia in einem Hubschrauber saß. Dabei überlegte sie angestrengt, wie es wohl mit Gerd weitergehen würde. Er schien aufgeregt und zornig zu sein, aber nicht direkt traurig. Genau so hatte sie sich das vorgestellt.
    Immer wieder betete sie sich verschiedene Variationen vor: Vielleicht ist sie ja ohne mein Zutun abgestürzt, und ich bilde mir alles nur ein. Mein Unterbewusstsein drangsaliert mich mit Falschmeldungen, weil ich ihr insgeheim den Tod gewünscht habe. Abgesehen davon war es sowieso kein Mord. Ich habe die Tat nicht geplant, und eigentlich ist Ortrud selber schuld. Hätte sie sich nicht so rücksichtslos benommen, wäre ich nicht ausgerastet. Und überhaupt – wer soll es mir nachweisen?
    Bei der großen Suchaktion war natürlich nichts herausgekommen, also musste der Sicherheitsoffizier davon ausgehen, dass Ortrud irgendwann in der Nacht über Bord gegangen war. Er benachrichtigte die örtliche Polizei und das deutsche Konsulat. Gerd wurde gebeten, das Schiff vorerst nicht zu verlassen. Für eine erfolgreiche Suche mit Flugzeugen, Helikoptern oder Rettungsbooten war es wahrscheinlich zu spät, aber man wollte es trotzdem versuchen. Die Küstenwache und mehrere Schiffe auf der gleichen Route wurden informiert und dazu angehalten, Ausschau zu halten. Die Nacht war stürmisch gewesen, der Unfall musste sich bei Dunkelheit und hohem Seegang ereignet haben. Zeugen gab es nicht, Gerd hatte ein wasserfestes Alibi durch die Aussage der Krankenschwester. Ellen konnte berichten, dass sie mit Ortrud noch kurz nach zehn telefoniert hatte, die Kabinenstewardess konnte bestätigen, dass sie Erbrochenes auf dem Teppichboden und auf dem Balkon beseitigt und leere Rotwein- sowie Armagnac-Flaschen gefunden hatte. Sie glaubte auch, Ortrud als Letzte gesehen zu haben, als sie nämlich gegen 21 Uhr die Betten für die Nacht herrichten wollte. Zu jener Zeit habe die Vermisste zwar kein Nachthemd, aber doch einen legeren Jogginganzug getragen, woraus man schließen konnte, dass sie sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen wollte. Von Ortruds persönlichen Dingen

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