Über Bord
Ansgar…«, und schon musste sie wieder glucksen und verschluckte sich dabei.
Ellen ärgerte sich. »Der arme Kerl liegt unten im Krankenzimmer und leidet, während du dich sinnlos betrinkst und blöde Witze machst«, sagte sie aufgebracht.
»Ich wusste sofort, dass du scharf auf ihn bist«, sagte Ortrud, und ihr Tonfall wurde plötzlich aggressiv. »Und ich war ganz und gar dagegen, dass du mit auf diese Reise kommst. Aber Gerd hat unseren Sohn so tief gekränkt, dass der nicht mehr mitwollte, eine Schande!«
»Wieso Gerd? Du warst es doch, die ihm seine Partnerinnen vermiest hat!«, sagte Ellen.
»Ich? Hat er dir das etwa erzählt? Er hat sich doch an jede Freundin unseres Sohnes herangemacht! Jetzt bin ich aber fassungslos, dass Gerd mit einer Fremden über unsere privaten Probleme redet und dabei auch noch lügt wie gedruckt. Hätte ich doch damals nicht gleich einen Krankenwagen gerufen, dann wäre ich diesen Schlappschwanz längst los!«
Es hat keinen Zweck, mit ihr zu reden, dachte Ellen, es kommt nichts Gutes dabei heraus. Besoffene sagen manchmal Dinge, die ihnen ein Leben lang leidtun. Sie wollte gehen, wurde aber daran gehindert.
»Halt! So einfach kommst du mir nicht davon!«, sagte Ortrud und kippte ein weiteres Glas hinunter. »Erst Probleme anschneiden und sich dann verdrücken, das ist unfair. Vielleicht sollten wir uns duellieren? Wer gewinnt, kann ihn haben. Aber viel Freude wirst du nicht an ihm haben, er ist langweilig, interessiert sich nur für Zahlen und Statistiken und merkt gar nicht, wenn ihm nahestehende Menschen unglücklich sind.«
Ellen hatte große Lust, ihrer Kontrahentin eine Ohrfeige zu verpassen, aber damit hätte sie sich nur selbst ins Unrecht gesetzt. Wie konnte man so über einen Mann sprechen, der kunstsinnig, gebildet sowie ein Muster an Feinfühligkeit war und alles andere als langweilig?
Ortrud erhob sich mühsam und stemmte die schwere Glastür auf, draußen pfiff der Wind, der Regen hatte zugenommen. Doch sie hatte offenbar nicht vor, eine Zigarette auf dem Balkon zu rauchen, sondern angelte sich nur den gutgefüllten Aschenbecher, der draußen auf einem Tischchen stand. Ellen zog die Tür schnell wieder zu, obwohl sie den zu erwartenden Qualm verabscheute.
»Lass ein bisschen offen«, sagte Ortrud. »Ich muss leider die Hand ins Freie halten, sonst springt der Rauchmelder an. In den Kabinen ist es verboten, früher ging es menschlicher zu! Noch nicht mal die Kippen darf man ins Meer werfen. Ach Gott, wie tief sind wir gesunken, alles wird reglementiert!«
Sie stand direkt vor dem Balkon, inhalierte schnell und gierig, hielt die angezündete Zigarette durch einen Spalt nach draußen, öffnete aber nach jedem Atemzug die Tür etwas weiter und blies den Rauch hinaus. Ellen war sehr müde, aber auch so erregt und unruhig, als hätte sie zehn Tassen Kaffee getrunken – das Herz klopfte, sie schwitzte. Anscheinend bekam ihr der teure Schnaps nicht, sie sollte keinen weiteren Schluck davon trinken, während Ortrud immer noch nicht genug zu haben schien. Kaum war sie mit ihrer Zigarette fertig, nahm sie sich wieder den Armagnac vor und erging sich in Anklagen gegen Gerd und den Rest der Welt. Ellen hörte kaum mehr hin, denn das Gelaber wurde immer verworrener. Auch von der toten Zwillingsschwester war die Rede, mit der sie in spirituellem Kontakt stehe.
Gleich wird sie einschlafen, aber ich mache mich schon vorher vom Acker, dachte Ellen und erhob sich, ganz egal, ob noch ein Anruf von Gerd, dem Arzt oder einer Krankenschwester kommt. Doch genau in diesem Augenblick fing Ortrud an zu würgen. Ehe Ellen ihr ein Gefäß hinhalten konnte, landete der erste Schwall auf dem Teppichboden. Schon bei den eigenen Kindern hatte sich Ellen vor Erbrochenem geekelt, bei einer verhassten, sternhagelvollen Frau geriet sie in Panik.
»Raus auf den Balkon!«, schrie sie und zerrte Ortrud in den Regen hinaus. Die zweite Ladung wurde der unfreiwilligen Samariterin durch eine heftige Bö mitten ins Gesicht gefegt. Nicht gerade sanft packte Ellen die Schnapsdrossel am Kragen und hielt ihren Kopf über Bord, damit sie auch wirklich Neptun opferte. Doch auch der dritte Schub ging teilweise daneben, und da riss Ellen endgültig der Geduldsfaden. Ortrud war kein Schwergewicht. Es ging blitzschnell, sie an den staksigen Beinen hochzureißen und mit einem kräftigen Schwung in die aufgewühlte See zu befördern. Sie vernahm einen leisen Schrei wie von einer fernen Möwe, und auch der
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