Über Bord
fehlte nichts, auch nicht die Bordkarte. Gerd hatte zu Protokoll gegeben, dass die Tür zum Balkon offen gestanden habe, was aufgrund des immer noch nassen Teppichs glaubhaft erschien. Spuren vom gewaltsamen Eindringen einer unbekannten Person fanden sich nicht.
In den Aufzeichnungen seiner Frau fand Gerd dezente Hinweise auf eine Suizidneigung. Zu Beginn gab es eine Eintragung anlässlich der hündischen Seebestattung, die immerhin für eine starke Todessehnsucht sprach:
Die Asche eines Hundes wurde heute in einer anrührenden Zeremonie in der Tiefsee versenkt. Ich sehne mich danach, ebenso meinen Frieden zu finden. Es ist eine faszinierende Vorstellung, von Korallen umgeben auf dem Meeresboden zu liegen, sanft geschaukelt von den Wellen und von bunten Fischen umspielt.
Einige Tage später gab es einen anderen Satz, der zu denken gab:
Sie schaut mich immer wieder fordernd an, sobald ich in den Spiegel sehe. Lass mich nicht wieder allein, folge mir, will sie mir sagen. Zu zweit waren wir stark, zu zweit haben wir das Leben gemeistert, auch wenn wir uns nicht mehr so oft sehen konnten. Aber zu zweit lässt sich auch die ewige Ruhe genießen, sie wird unendlich befreiend sein.
Zweifellos war hier von Ortruds Zwillingsschwester die Rede. Etwas wie ein Abschiedsbrief fand sich nicht in ihren Eintragungen Aber eine weitere Stelle, die auf eine Depression schließen ließ:
Das Leben an Bord ist der pure Luxus, aber für mich eine große Gefahr. Ich trinke zu viel, um meine Verzweiflung zu bekämpfen. Gerd liebt mich nicht mehr, ich glaube fast, dass er den Annäherungen dieser unverschämten Frau nicht mehr lange widerstehen kann. Der einzige Mensch, der immer zu mir hielt, ist tot.
Gerd las Ellen diese Zeilen vor, und sie war der Toten dankbar, dass ihr Name nicht erwähnt wurde.
»Darf ich das ganze Reisetagebuch lesen?«, fragte sie, aber Gerd schüttelte den Kopf. Das sei allzu privat, meinte er, die Notizen seien nicht für andere gedacht, davor müsse man Respekt haben. Es sei ihm selbst fast peinlich, darin herumgeforscht zu haben. Doch am Nachmittag müsse er den Behörden Auskunft geben. Für Recherchen bei Vermissten sei die örtliche Polizeibehörde zuständig. Ein Angestellter des Konsulats werde alle Fragen übersetzen und ihn über die Möglichkeiten weiterer Nachforschungen aufklären. Ellen könne ihm dabei nicht helfen, sie solle doch bitte an Land gehen und sich etwas ablenken. Sie nickte ergeben und wagte nicht, ihn zu umarmen.
Inzwischen war auch Amalia wieder eingetrudelt und hörte sich die dramatischen Neuigkeiten an, die ihre Mutter zu berichten hatte.
»Mama, ich glaube nicht«, sagte Amalia, »dass du jetzt in Trauer versinkst. Und Monsieur Gerd wird es durchaus zu schätzen wissen, dass er Madame Doornkaat los ist. Hat er am Ende etwas nachgeholfen?«
»Wie kannst du nur so herzlos daherreden«, sagte Ellen. »Wenn ein Mensch stirbt, ist es immer ein unersetzlicher Verlust. Gerd lag die ganze Nacht unten auf der Krankenstation, Verdacht auf Herzinfarkt, hoffentlich verkraftet er die Aufregung! Es ist jetzt unsere Aufgabe, ihn, so gut es geht, zu unterstützen und zu trösten. Aber er möchte, dass wir trotzdem heute Nachmittag an Land gehen, weil er mit der Polizei sprechen muss.«
»Übrigens glaube ich«, überlegte Amalia, »dass der Tod einer Person erst feststeht, wenn man die Leiche gefunden hat. Vielleicht hat sich Ortrud von einem Lover in einem Zodiac entführen lassen…«
»Quatsch«, sagte Ellen. »Du hast als Kind zu viele schlechte Filme gesehen. Und wie war die Nacht in St. Trop?«
»Langweilig«, sagte Amalia.
Später machten sich Mutter und Tochter auf den Weg ins Ozeanographische Museum, weil es Gerd empfohlen hatte. Direkt vom Hafen aus wanderten sie durch eine gepflegte Parkanlage einen Felsenhang hinauf, wo das majestätische Museum hoch über dem Meer thronte. Im Untergeschoss befanden sich spektakuläre Aquarien. Amalia war fasziniert von Rochen, Meeresschildkröten, Clown- und Plattfischen, während Ellen mit Tränen in den Augen die Haie und Piranhas beobachtete, die einen Menschen in null Komma nichts als Snack verzehren konnten. Nachdem sie sich im Obergeschoss antike Taucheranzüge und U-Boote, präparierte Meerestiere und Schiffsmodelle angesehen hatten, beschlossen sie eine Pause einzulegen und das Café aufzusuchen.
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Als Mutter und Tochter den Lift zum Museums-Café betraten, stiegen Ellen unangenehme Ausdünstungen in die Nase. Mein Kind hat
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