Über Bord
»Ich habe außerdem das Foto eines Unbekannten gefunden, der mir ähnlich sieht. Schauen Sie selbst!«
Amalia und Ellen beugten sich über ein durchaus wiedererkennbares Bild von Vater und Großvater und wussten nichts mehr zu sagen. Auf der Rückseite stand mit grüner Tinte geschrieben: Dein Rudi.
Nach einer Weile fragte Amalia: »Soll ich Oma holen?«
Sowohl ihre Mutter als auch Gerd Dornfeld wehrten ab. Womöglich ahne sie nichts vom Fehltritt ihres Mannes, und dabei solle es vorläufig auch bleiben.
Ellen wollte vor allem wissen, ob ihr vermeintlicher Bruder den vollen Namen ihres Vaters in einer Urkunde, in Briefen oder weiteren Tagebuchnotizen gelesen habe, was jedoch nicht der Fall war. Er hatte vielmehr einen Detektiv mit der Recherche beauftragt.
»Ich wusste schließlich, dass meine Mutter vor ihrer Heirat in Mörlenbach gelebt und dort in einer Apotheke gearbeitet hatte, es war also anzunehmen, dass auch der bewusste Rudi ein Mann aus eurem Ort war.«
Amalia kam eine Idee: »Das sind doch nur sehr vage Hypothesen. Gewissheit kann eigentlich nur ein Gentest bringen, und das ist kein großes Problem, wenn ihr beide damit einverstanden seid.«
Gerd sah sie dankbar an und nickte zustimmend. Ellen aber schüttelte den Kopf. War ihr dieser Mensch nicht völlig fremd? Sie entdeckte weder eine verwandte Seele in Gerd Dornfeld noch bemerkte sie eine äußerliche Ähnlichkeit. Von Seitensprüngen ihres Vaters wollte sie nichts wissen. Sie hatte ihren Papa geliebt und verehrt und konnte sich nicht vorstellen, dass er fremdgegangen war.
»Ich muss nachdenken und Ihren Verdacht erst einmal verdauen«, sagte sie in strengem Ton und stand auf. »Lassen Sie mir bitte Ihre Karte hier, Sie werden von mir hören.«
Amalia war enttäuscht. Sie hätte den neuen Halbonkel ganz gern nach Strich und Faden ausgehorcht. Wie hieß seine Mutter vor ihrer Eheschließung? War er verheiratet? Hatte er Kinder, gab es unbekannte Cousins und Cousinen? Welchen Beruf hatte er, wo wohnte er? War er jünger als ihre Mutter? Warum ihr Opa seinen unehelichen Sohn nicht anerkannt hatte, hätte Gerd Dornfeld wohl auch nicht beantworten können.
Kaum waren sie allein, verlangte Ellen einen Schnaps, was noch nie vorgekommen war. Sie klopfte unentwegt auf die Sessellehne und regte sich schrecklich auf.
»Mit Sicherheit ist er ein Betrüger! Was will er bloß von uns? Was hältst du von diesem Typen?«
Amalia fand ihn nicht unsympathisch. Sie konnte gut verstehen, dass er den Wunsch hatte, das Geheimnis seiner Herkunft zu klären. Das Tagebuch seiner Mutter war bestimmt ein großer Schock für ihn gewesen, wer konnte wissen, was sonst noch alles darin stand. Sie schnappte sich die Visitenkarte und las laut vor: Gerd Dornfeld, Apfelstraße 24, 60322 Frankfurt. Telefon und E-Mail waren zwar angegeben, aber kein Titel, keine Firma oder Berufsbezeichnung. Amalia eilte an den Computer, um seine Daten einzugeben. Die Adresse stimmte, doch leider fand sie in ihrer Ungeduld keine weiteren Informationen. Nachdenklich schaute sie ihre Mutter an.
»Wahrscheinlich ist er einsam und sucht Familienanschluss, und eigentlich sieht er Onkel Matthias ja ziemlich ähnlich«, meinte sie, »aber dir überhaupt nicht.«
»Ich habe schließlich vier Geschwister«, sagte Ellen. »Warum kommt er ausgerechnet zu mir? Jetzt rufe ich sie der Reihe nach an, mal sehen, ob die irgendetwas von einer Affäre unseres Vaters wissen…«
Amalia meinte, die Mutter solle sich beruhigen, schließlich habe der Skandal in prähistorischer Zeit stattgefunden. Aber sie fand die Geschichte trotzdem höchst interessant und hätte am liebsten alles gleich mit ihrem Uwe besprochen, wurde aber von der Mutter zu absolutem Stillschweigen verdonnert.
Zwei Stunden später kam auch Großmutter Hildegard aus dem Garten und hatte durchaus nicht vergessen, dass zwischendurch Besuch gekommen war.
»Wer war es denn? Ein neuer Verehrer?«, fragte sie spitz, doch sie erhielt keine Antwort.
»Wenigstens zum Kochen bin ich noch gut genug«, brummte sie beleidigt und verzog sich in die Küche.
Amalia lief ihr hinterher. »Oma, es war doch bloß ein Vorwerk-Vertreter«, log sie, »wir sind ihn ganz schnell wieder losgeworden.«
3
Ellen war die jüngste Tochter ihrer Eltern. Nach Gerd Dornfelds Besuch griff sie zum Hörer.
Er sei zwar kein Jurist, sagte ihr ältester Bruder Matthias, aber als Wirtschaftsprüfer kenne er sich in heiklen Finanzfragen aus. Selbst wenn es stimme, dass der
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