Über Boxen
selbst tun, sondern auch für das, was uns angetan wird.
Aus diesem Grund ist Boxen, obwohl es sehr viel mit dem wirklichen Leben zu tun hat, keine Metapher für «das Leben», es ist eine geschlossene, auf sich selbst bezogene Welt, mit nichts zu vergleichen, außer vielleicht mit jenen strengen Religionen, in denen der Mensch sowohl «frei» als auch «determiniert» ist, ausgestattet mit einem Willen, der dem Willen Gottes gleichgestellt ist, und gleichzeitig vollkommen hilflos. Puritanische Sensibilität hätte an einem blutenden Mund oder einem ausgeschlagenen Auge als gerechte Strafe für einen unachtsamen Moment keinen Anstoß genommen.
Die schwierigste Aufgabe eines Trainers soll es sein, einen jungen Boxer dazu zu bringen, aufzustehen und weiterzukämpfen, wenn er zu Boden geschlagen wurde. Denn wenn ein Boxer durch einen Schlag zu Boden gegangen ist, den er nicht kommen sah – was normalerweise der Fall ist –, wie soll er es vermeiden, erneut zusammengeschlagen zu werden? Und wieder? Und wieder? Den Schlag, den man nicht kommen sah, wird man auch in Zukunft vermutlich nicht voraussehen.
Im Ring gibt es keine «Normalität». Sie wäre unerträglich, zutiefst beschämend. Ein «normaler» Mensch hat, wie Spinoza sagt, mit allen lebenden Wesen eines gemeinsam: den Selbsterhaltungstrieb. 6 Der Boxer muss irgendwie lernen, und kein Nicht-Boxer wird je verstehen, wie, seinen Überlebensinstinkt zu überwinden. Er muss lernen, seine rein menschlichen, animalischen Impulse seinem Willen zu unterwerfen, Impulse, die ihm nicht nur befehlen, den Schmerz, sondern das Unvorhersehbare zu vermeiden. Psychologisch gesehen klingt das wie Zauberei. Levitation. Geistige Gesundheit auf den Kopf gestellt, «Verrücktheit», die sich als eine höhere und pragmatischere Form von Normalität erweist.
Die Kontrahenten im Ring sind der Zeit unterworfen – nichts ist so verzweifelt lang wie eine harte Dreiminutenrunde –, aber der Kampf selbst ist zeitlos. In einem gewissen Sinn enthält er alle Kämpfe, die je gekämpft wurden, wie in den Boxern, die gerade kämpfen, alle Boxer verkörpert sind. Durch den Film, die Aufnahmen, die Fotografien wird alles schnell zu Geschichte, manchmal sogar zu Kunst.
Die Zeit ist, wie die Möglichkeit, im Ring zu sterben, der unsichtbare Gegner, dessen Anwesenheit für die Boxer – und für die Ringrichter, die Betreuer, die Zuschauer – deutlich spürbar ist. Wenn ein Boxer k . o. geschlagen wurde, heißt das nicht, dass er, wie meist angenommen wird, bewusstlos geschlagen oder disqualifiziert wurde; es heißt, um es poetisch auszudrücken, dass er aus der Zeit hinausgeschlagen wurde. (Solange der Ringrichter bis zehn zählt, herrscht eine Art metaphysische Zwischenzeit, die der Boxer durchdringen muss, wenn er nicht aus der Zeit herausfallen will.) In gewissem Sinn gibt es zwei schroff gegeneinander arbeitende Zeiten: Der Boxer, der auf den Füßen steht, befindet sich innerhalb der Zeit , der Boxer, der zu Boden geht, ist aus der Zeit gefallen.
Wird er ausgezählt, ist er «tot», in symbolischer Nachahmung einer alten Tradition, nach der er mit großer Wahrscheinlichkeit wirklich nicht mehr am Leben gewesen wäre. (Allerdings behielten sich die raffinierten römischen Zuschauer, wie wir wohl wissen, das Recht vor, über den Todesstoß selbst zu entscheiden. Der siegreiche Gladiator musste den Befehl von außen abwarten, ehe er seinen Gegner tötete.)
Sieht man Boxen als Sport, so ist es die tragischste aller Sportarten, denn es verschleißt die Begabungen, die es hervorbringt, mehr als jede andere menschliche Aktivität – dieser Verschleiß ist ein wahres Drama. Sich zu verausgaben, um den größten Kampf seines Lebens zu kämpfen, heißt zwangsläufig, sich auf dem Abstieg zu befinden, denn schon der nächste Kampf kann eine Niederlage sein, ein jäher Sturz in den Abgrund. «Ich bin der Größte», sagte Muhammad Ali. «Ich bin der Größte», sagte auch Marvelous Marvin Hagler. «Immer denkt man, dass man gewinnt», sagte der alte Jack Dempsey, «sonst könnte man gar nicht kämpfen» – eine vertrackte Bemerkung. Was für Schläge ein Mann einstecken muss – sein Körper, sein Kopf, sein Durchhaltevermögen –, um auch nur ein einigermaßen guter Boxer zu sein, werden die meisten von uns nie begreifen, denn unsere Vorstellungen von persönlichem Risiko werden größtenteils von unserem eigenen Charakter, von unseren Gefühlen bestimmt. Aber
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