Über Boxen
das im nächsten Monat eine Schlagzeile beansprucht, oder der außergewöhnliche Zufall, dass man die Treppe hinunterfällt, in der Badewanne verunglückt, sich einen Schädelbasisbruch und eine Gehirnblutung zuzieht.
Von Zuschauern solcher «Todeskämpfe» hört man später häufig, dass das, was geschah, irgendwie selbstverständlich abzulaufen schien – unvorhersehbar, in gewissem Sinne zufällig. Erst im Nachhinein scheint der Tod unvermeidlich.
Vergleicht man einen Boxkampf mit einer Geschichte, so ist es eine unberechenbare Geschichte; alles kann passieren. Und das in Sekundenschnelle. Im Bruchteil von Sekunden! (Muhammad Ali brüstete sich, dass er einen Treffer schneller landen könne, als mit dem bloßen Auge zu verfolgen sei, und vielleicht hatte er recht.) In keinem anderen Sport geschieht so viel in einer so kurzen Zeitspanne – und so Unwiderrufliches.
Ein Boxkampf ist eine Geschichte ohne Worte, was aber nicht heißt, dass er keinen Text oder keine Sprache besitzt, dass er «roh», «primitiv» oder «unartikuliert» ist; nur entsteht der Text während des Geschehens, seine Sprache ist ein höchst kunstvoller Dialog zwischen den beiden Boxern (man könnte sagen, dass es ein sowohl neurologischer wie psychologischer Dialog ist, ein Dialog der Reflexe, der sich in Sekundenbruchteilen abspielt), eine Reaktion auf den geheimnisvollen Wunsch des Publikums, dass die Qualität des Kampfes die Rohheit der Begleitumstände – Ring, Lichter, Seile, befleckter Boden, die starrende Menge selbst – auslöschen, vergessen machen möge. (Wie im Theater oder in der Kirche löscht im Idealfall das, was auf der Bühne oder vorne am Altar geschieht, alles andere aus, transzendiert es.) Kommentatoren des Boxsports versuchen, das wortlose Schauspiel in eine erzählerische Einheit zu fassen, aber Boxen steht eindeutig dem Tanz oder der Musik näher als der Erzählkunst.
Schaut man sich nach einem gewöhnlichen Vorkampf einen der «Jahrhundertkämpfe» wie den zwischen Joe Louis und Billy Conn, Joe Frazier und Muhammad Ali, Thomas Hearns und Marvin Hagler an, dann ist das, wie wenn man, vielleicht mit halbem Ohr, einem wenig ambitionierten Gitarrenspiel zuhört und sich dann einer virtuosen Aufnahme von Bachs «Wohltemperiertem Klavier» zuwendet; aber beim Boxen kommt noch etwas hinzu, was einen guten Teil des Geheimnisses der Geschichte ausmacht: Vieles von dem, was da vor sich geht, geschieht so schnell und mit solch atemberaubender Subtilität, dass der Zuschauer es nicht begreifen kann, er weiß nur, dass es entscheidend und mit Worten nicht zu fassen ist.
Ich versuche, die Nasenspitze meines Gegners zu treffen,
ich will ihm das Nasenbein ins Gehirn treiben.
Mike Tyson, Schwergewichtler
Boxen erhebt den Anspruch, dem Leben überlegen zu sein, denn im Idealfall kennt es den Zufall nicht. Nichts geschieht, was nicht bewusst gewollt wird.
Der Boxer trifft in seinem Gegner auf einen Doppelgänger mit verkehrten Vorzeichen: Die eigene Schwäche, die Möglichkeit, zu versagen und ernstlich verletzt zu werden, Fehleinschätzungen während des Kampfes, alles kann als Stärke des anderen gesehen werden. Die Dimensionen der eigenen Persönlichkeit werden dann durch die Selbstbehauptung des anderen bestimmt. Das ist ein Traum oder ein Albtraum: Meine Kraft ist nicht ganz die meine, sie beruht auf der Schwäche des Gegners; für mein Versagen bin ich nicht allein verantwortlich, der Triumph des Gegners hat daran teil. Er ist mein Schatten-Ich, kein bloßer Schatten. Der Boxkampf ist, um Aristoteles’ Definition der Tragödie zu zitieren, «eine gute und in sich geschlossene Handlung von bestimmter Größe», 5 und als solche bezieht er zwangsläufig beide Gegner mit ein, wie jede Zeremonie alle ihre Teilnehmer umfasst. (Aus diesem Grund kann man zum Beispiel sagen, dass der größte Kampf Muhammad Alis einer der wenigen Kämpfe war, die er verlor – das erste heroische Zusammentreffen mit Frazier.)
Hinter der alten – und mit Sicherheit falschen – Boxerweisheit, die besagt, dass man nicht k . o. geschlagen werden kann, wenn man den Schlag kommen sieht und nicht k . o. geschlagen werden will, steht eine subtile und erschreckende Wahrheit: Was immer dem Boxer im Ring zustößt – und das schließt den Tod, den eigenen Tod, mit ein –, geschieht, weil er selbst es will oder weil sein Wille versagt. Diese Weltsicht geht von einer Vorstellung aus, in der wir nicht nur für das verantwortlich sind, was wir
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