Über Boxen
weniger als bei offiziellen Kämpfen) verkürzt. Mit Sicherheit erwartet den Boxer nach seinem Rückzug eine stark verringerte Lebensqualität, wie im traurigen Fall von Muhammad Ali, dem meistumjubelten und -geliebten Schwergewichtler aller Zeiten. Für die große Mehrheit der Boxer in Vergangenheit und Gegenwart ist das Leben im Ring gefährlich, brutal und kurz – und nicht einmal besonders einträglich.
Dennoch ist für die Boxwelt das ideale Ende eines Kampfes der Knock-out und nicht der Sieg nach Punkten, und zwar im Idealfall nicht die Sorte, bei der ein noch stehender Mann ausgezählt wird, und noch viel weniger ein TKO (technischer K . o. aufgrund von Verletzungen), sondern ein Knock-out, der nichts Unklares, Zweideutiges mehr hat: Der eine Mann bricht bewusstlos zusammen, und der andere springt durch den Ring, die behandschuhten Hände siegreich in die Luft gereckt, eine fleischgewordene jugendliche Machofantasie. Wie eine Tragödie, in der niemand stirbt, wirkt ein Kampf ohne klassischen Knock-out immer unaufgelöst, unerfüllt; die Kraft, der Mut, die Geschicklichkeit und die Verzweiflung beider Boxer sind nicht angemessen ausgelotet worden. Die Katharsis findet nur teilweise statt, das aristotelische Prinzip einer in sich geschlossenen Handlung wird durchbrochen. (Man denke an die Wut des jungen Muhammad Ali auf den allzu schnell besiegten Sonny Liston in ihrem zweiten, berüchtigten Titelkampf 1965: Statt in die neutrale Ecke zu gehen, stellte sich Ali mit angewinkelten Armen vor seinen zusammengebrochenen Gegner und schrie: «Steh auf und kämpf, du Penner!») Denn im Boxkampf wird nicht nachgeahmt wie in einem Spiel, ein Boxkampf entspricht auf eindrucksvolle Weise dem grausamen menschlichen Überlebenskampf. Wenn diese Analogie – wie bei den meisten Kämpfen – nicht beschworen wird, ist das Stück langweilig und glanzlos; «Boxen» ist zwar eine Kunst, doch die Leidenschaft gilt dem «Kämpfen». Um die Raserei des Publikums bei sogenannten großen Kämpfen wie Frazier/Ali I 1971 oder Hagler/Hearns 1985 für möglich zu halten, muss man sie miterlebt haben. Die Identifikation mit den Boxern ist übermächtig; es ist, als lösten sich die Grenzen zwischen den Individuen auf und man würde Zeuge eines grausamen dionysischen Opfer- und Erlösungsrituals. «Fast wie Sterben», beschrieb es Ali nach seinem dritten Titelkampf gegen Joe Frazier1975 , den er gewann, als der Kampf nach der vierzehnten Runde abgebrochen wurde. «Das ist vielleicht eine Art, sich den Lebensunterhalt zu verdienen!», meinte Junior-Weltergewicht Saoul Mamby völlig zerschlagen nach einem Titelkampf 1984 gegen den Champion Billy Costello.
Ein Ritterroman über die im Notfall zu opfernde Männlichkeit, in dem der Kampf an sich im Mittelpunkt steht und selbst große Helden kommen und gehen.
Aus diesen und anderen Gründen war das Boxen lange Zeit Amerikas meistgeschmähter Sport: ein «sogenannter Sport», sogar ein «Meta-» oder «Antisport», ein «übles Ausbeuten der Männlichkeit», so wie Prostitution und Pornografie als übles Ausbeuten der Weiblichkeit gelten können. Es ist indes nicht, wie allgemein angenommen, der gefährlichste Sport. Die American Medical Association, die für ein Verbot des Boxens eintritt, gibt zu, dass es statistisch gesehen weniger gefährlich ist als Autorennen, Pferderennen, Skirennen, Profifootball und anderes, aber es ist der am offensichtlichsten und spektakulärsten grausame Sport, denn sein Ziel ist es, den Gegner durch einen Schlag aufs Gehirn bewusstlos zu machen und den orgiastischen «Knockout» aller Anwesenden herbeizuführen, den Höhepunkt in einem idealen, sich ständig steigernden Kampf. Der Gutmensch wendet ein, dass Boxen schon von der Intention her widerlich sei und sich somit zumindest theoretisch von den oben genannten sauberen (das heißt weißen) Sportarten des Establishments unterscheide. Das Boxen funktioniert nur, wenn es ein unerschöpfliches Angebot an jungen Männern gibt, die danach gieren, ihr Armenviertel zu verlassen, und mehr als bereit sind, die offensichtlichen, vielleicht ständigen Gefahren der Straße gegen die möglichen Gefahren des Rings einzutauschen; dennoch kommt nur selten der Vorschlag, man müsse, um das Boxen auszumerzen, einfach die Armut abschaffen, und kaum jemand führt an, dass das eigentlich Widerliche die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, die das Boxen begünstigen. Die frömmlerische Scheinheiligkeit weißer Moralisten
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