Über Boxen
befürchtet hatte, aber Duva hatte darauf bestanden, dass der Kampf fortgeführt wurde, ohne Rücksicht auf die Risiken für Biggs. Duva hatte sich durchgesetzt, und der Kampf dauerte noch ein paar Sekunden länger, als müsse seine Prämisse erfüllt werden: Biggs verdiente es, dass Tyson ihm wehtat, und zwar «richtig wehtat».
Das Schauspiel des Boxens ist erniedrigend, kein Zweifel – im eigentlichen Sinn des Wortes ist es eine Er-Niedrigung, ein In-sich-Zusammenbrechen, als ließen einen die empfindlichen Nervenenden im Stich. Dass der verlierende, scheiternde, taumelnde Boxer nicht aufgibt, ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Erniedrigungsprozesses, denn beim Boxen geht es nicht nur ums Gewinnen, sondern auch ums Verlieren, nicht nur ums Verletzen, sondern auch ums Verletztwerden, und selbst der wildeste Macho unter den Zuschauern empfindet Mitleid mit dem Boxer, der zwar verliert, aber dabei Würde und Mut zeigt, wie Hemingway das in einem anderen Zusammenhang formuliert hat.
Als der Kampf vorüber war, blieben die Leute noch eine Weile auf ihren Plätzen sitzen, als wären sie gebannt oder benebelt wie Biggs oder auch erschöpft. Die zwanzig Minuten des Kampfes waren einem wie zwanzig Stunden vorgekommen. Die Aussicht, Mike Tysons souveräne Leistung gegen die alltägliche, so gar nicht souveräne Welt da draußen tauschen zu müssen, war abschreckend; dennoch machten wir uns auf den Weg, eine vieltausendköpfige, wogende Menge, kopflos und richtungslos – die gelb gekleideten Platzanweiser, die vorher noch so deutlich zu sehen gewesen waren, schienen jetzt gänzlich verschwunden –, durch finstere, schmutzige Korridore mit Schildern, auf denen «Kein Ausgang» stand, und in etwas beängstigende Sackgassen, denn was, wenn jetzt ein Feuer ausbrach, eine plötzliche Panik, und wir einander zu Tode trampelten? Ein Schicksal, das einige vielleicht als gerecht empfunden hätten, da wir gerade alle einer Handlung von unvertretbarer Brutalität beigewohnt hatten. Doch mit Hilfe des blinden Tastsinns fanden wir in einer Art brownscher Bewegung 14 menschlicher Moleküle hinaus auf die Straße oder in die Unterführungen zu dem protzigen, geschmacklosen Trump Plaza Hotel, wo gemusterte Teppiche in den Primärfarben den Sehnerv schockten und funktionslose, albern verspiegelte Säulen uns den Weg versperrten und uns zeigten, was wir jetzt keinesfalls zu sehen wünschten, unsere eigenen Gesichter. Jetzt, da der Kampf vorüber ist, flutet die «wirkliche» Welt zurück, und die gewaltige Anziehungskraft von Mike Tyson und seinen großen Vorgängern besteht darin, dass ein menschliches Wesen, einer von uns , unter welch künstlichen und eingeschränkten Umständen auch immer, reduziert einzig auf körperliche Kraft, Schnelligkeit und Findigkeit, Herr über sein Schicksal ist, auch wenn sich diese Herrschaft nur darin zeigt, dass er ein anderes menschliches Wesen zusammenschlägt, bis dieses sich restlos unterwirft. Boxen besteht nicht nur darin, aber das ist der heimliche Grundsatz des Boxens: Das Leben im Ring ist hart, aber du bekommst nur, was du verdienst.
DER GRAUSAMSTE SPORT
Und dass der Leib nicht so vermögend ist wie die Seele?
Und wäre der Leib nicht die Seele, was ist dann die Seele?
Walt Whitman,
«Den elektrischen Leib sing ich» 1
Der Sieg eines Boxers wird mit Blut erkauft.
Griechische Inschrift
Das Profiboxen ist der einzige amerikanische Sport von Bedeutung, bei dem die elementaren, oft mörderischen Energien nicht verschämt über ein Artefakt wie einen Ball oder einen Puck abgeleitet werden. Obwohl in höchstem Grade ritualisiert und so streng an Regeln, Traditionen und Tabus gebunden wie eine religiöse Zeremonie, hat hier der Wettstreit in seiner primitivsten und erschreckendsten Form überlebt: Zwei halb nackte Männer bekämpfen sich auf einem hell erleuchteten Podest, das wie ein Pferch mit Seilen eingezäunt ist. (Ursprünglich waren die Seile allerdings dazu da, rauflustige Zuschauer fernzuhalten). Zwei Männer steigen in den Ring, und symbolisch gesprochen kommt nur einer wieder heraus. (Es gibt beim Boxen auch ein Unentschieden, aber das ist selten und unbeliebt.) Boxen ist die stilisierte Vortäuschung eines Kampfes auf Leben und Tod, doch auf das Nur-Vortäuschen ist nicht immer Verlass, denn manchmal sterben Boxer im Ring oder als Folge eines Kampfes, und manchmal, vielleicht auch immer wird ihr Leben durch den Stress und die Strapazen ihrer Karriere (beim Training nicht
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