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Über das Haben

Über das Haben

Titel: Über das Haben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Weinrich
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Oktoberrevolution HABEN . Und bei den Sprachfächern HABEN sie neben Deutsch auch Russisch. Aber aufgepasst! Da steht auch: «Früher HATTEN wir kein Russisch». Auch an weiteren Textstellen ist bei der Verteilung der verneinten und der fragenden Sätze ein auffälliger Umgang zu beobachten, gewissermaßen mit Augenzwinkern, zum Beispiel: «Diese Ware ist überall zu HABEN ; das Buch ist leider nicht mehr zu HABEN ». Es gibt noch eine andere Mangelware, die in der damaligen DDR als südländisches Sehnsuchtsobst begehrt und eben nicht zu HABEN war, daher die sicher listig gemeinte Frageform: « HABEN Sie Apfelsinen?» Hintersinnig ist wahrscheinlich auch der folgende Beispielsatz zu lesen: «Bis zur Grenze HATTEN sie noch drei Kilometer». Wenn es so sehr auf den Abstand von der Grenze ankommt, kann eigentlich nur die emotional betrachtete «Zonengrenze» (so der westliche Sprachgebrauch) gemeint sein.
    Für die empfindlichste (und zugleich versteckteste) Abwendung von den klassischen Wörterbüchern der Adelung, Campe und Grimm haben sich die Berliner Wörterbuchmacher eine schwerwiegende Umorganisation des HABEN -Artikels einfallen lassen. Sie haben die körperlich-anthropologischen Beispiele, die bei den Altmeistern aus wohlerwogenen Gründen an die Spitze des HABEN -Artikels gerückt waren, zurückversetzt und statt ihrer gleich unter Punkt 1 dem Besitz und Eigentum Raum gegeben. Und so stehen nun gleich am Anfang des Katalogs möglicher Objekte, die jemand HABEN kann, Haus undAuto im Vordergrund, und erst an späterer Stelle wird verzeichnet, dass man auch Frau und Kinder HABEN kann. Für diese Verkehrung der klassisch-lexikographischen Üblichkeit ist ein sachlicher Grund nicht erkennbar.
    Aber einen sehr menschlichen und in diesem Sinne unsachlichen Grund gibt es vielleicht doch. Dieser wird erkennbar, wenn man den HABEN -Artikel des DDR -Wörterbuchs mit Aufmerksamkeit weiterliest. Denn nächst Haus und Auto, die er oder sie laut Wörterbuch HAT , geht es mit dem Katalog der Habitus-Objekte noch weiter, und wir erfahren mit einiger Überraschung, dass die vorgestellte Person außerdem eine große Bibliothek mit vielen Büchern, alten Handschriften und seltenen Ausgaben HAT und dazu noch eine wertvolle Porzellansammlung. Mit einem Wort: Dieser kleine Katalog von denkbaren HABITUS -Objekten malt mit wenigen Strichen eine bildungsbürgerliche Nische als Idylle aus, wie sie nur schwerlich, außer im Modus der Nostalgie oder Ironie, mit der notorischen Tristesse des DDR -Alltags in Einklang zu bringen war. Vielleicht ist auch dieser seltsame Umsturz einer bewährten Wörterbuchordnung das Zeugnis eines, wenn ich so sagen darf, angepassten Widerstands, von dem ich gerne wüsste, was wohl die Brüder Grimm, zwei der «Göttinger Sieben», von solcher lexikographischen Widerstandskunst gesagt oder gedacht HÄTTEN .
    *
    Mit rund einer Dekade Verspätung gegenüber den Kollegen von der Ost-Berliner Akademie hat auch die Dudenredaktion in Mannheim den Sprung von dem zwar höchst nützlichen, aber doch kleinwüchsigen Rechtschreib-Duden in die größere Dimension der Lexikographie gewagt und geschafft. Für die Verspätung verdient sie übrigens keinen Tadel. Ihr Wörterbuch erscheint in einem privatwirtschaftlich geleiteten Verlag, der es sich nicht leisten kann, die Regeln der Ökonomie zugunsten politischer Prioritäten außer Acht zu lassen.
    So entstand also in den Jahren 1976–1981 unter der verdienstvollen Leitung von Günther Drosdowski «Das große Wörterbuch der deutschen Sprache» in sechs Bänden, das später noch auf acht und zehnBände erweitert worden ist. Es beruht ebenfalls auf einer umfangreichen eigenen Korpussammlung und ist mit dudentypischer Professionalität gemacht. In zweierlei Hinsicht muss sich dieses Wörterbuch jedoch einen kritischen Kommentar gefallen lassen.
    Der erste Einwand bezieht sich auf das gewählte Referenz-Korpus. Aus sehr problematischen Gründen hat nämlich die Dudenredaktion damals die fatale Entscheidung getroffen, die ganze deutsche Literatursprache, vom klassischen Zeitalter bis 1900, aus ihrem Konzept der Gegenwartssprache fernzuhalten. Ich habe seinerzeit in langen Diskussionen mit Mitgliedern der Redaktion leidenschaftlich die Position verteidigt, dass die Sprache unserer Klassiker (im weitesten Sinne des Wortes) selbstverständlich zur Sprache der Gegenwart «noch dazugehört», sofern die deutsche Sprache weiterhin als Kultursprache gelten soll. Mit der zweiten

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