Über das Haben
MEIN/DEIN/SEIN/UNSER/EUER/IHR . In dieser Reihe fehlen aber noch die Geschlechter, also: SEIN Fußball/ IHRE Puppe. Ferner die Fälle: Dies ist MEINE Schreibtafel. Wo HAST du DEINEN Griffel? An SEINEM Tafellappen ist das Band abgerissen. Wo HAT sie die Rollschuhe IHRES Bruders?
Am liebsten und am besten haben wir damals die Sprachlehre beim Singen gelernt, natürlich auswendig, also bis heute unvergessen wenigstens die erste Strophe:
Ännchen von Tharau ist’s, die mir gefällt,
sie ist MEIN Leben, MEIN Gut und MEIN Geld.
Ännchen von Tharau HAT wieder IHR Herz
auf mich gerichtet in Lieb und in Schmerz.
Ännchen von Tharau, MEIN Reichtum, MEIN Gut,
du MEINE Seele, MEIN Fleisch und MEIN BLUT .
Dieses wunderschöne Gedicht von Simon Dach, nach einer alten Volksweise zu singen, habe ich es auch verstanden? Ja, natürlich.
In meiner Volksschule wurde aber nicht immer gesungen. Denn das Päckchen der besitzanzeigenden Fürwörter gab zugleich Gelegenheit, ernstlich über den Unterschied von MEIN und DEIN nachzudenken. Denn was MEIN ist, das ist nicht DEIN . Und wer MEIN und DEIN verwechselt, der stiehlt und ist ein Dieb (wir sagten: Stehler). Er hat gegen das siebente Gebot verstoßen, und das ist eine schwere Sünde. Auch deswegen ist es so wichtig, die besitzanzeigenden Fürwörter auswendig zu lernen und nicht wieder zu vergessen.
Ob allerdings bei dem Lehrer, den wir in UNSERER Schule HATTEN , oder bei der Lehrerin, die ihr Mädchen in EURER Schule HATTET , auch tatsächlich gemeint war, dass bei den Lehrpersonen beiderlei Geschlechts jeweils Besitz angezeigt wurde? Und wie verhielt es sich mit Jesus bei dem zu lernenden Stoßgebet « MEIN Jesus, Barmherzigkeit?» Bei Gott Vater, wenn wir das VATERUNSER beteten? Bei der Madonna, wenn wir sie als UNSERE Liebe Frau verehrten? Was für ein Besitz wurde da eigentlich angezeigt? Das sind nun allerdings Gedanken und Vorstellungen, die dem damaligen Volksschüler gewiss nicht durch den Kopf gegangen sind.
Erst später, sehr viel später habe ich mich gefragt, ob die Altmeister der griechischen und lateinischen Grammatik uns Nachgeborenen vielleicht einen problematischen Dienst damit erwiesen haben, dass sie bei dem Verb HABEN in der Verbal-Grammatik und bei den Possessiv-Pronomina MEIN und DEIN in der Nominal-Grammatik das Besitzstreben, Besitzergreifen und schließlich das Besitzen selbst so suggestiv ins Zentrum des Sprachbewusstseins gerückt haben. Denn das wird keineswegs den Fakten des Sprachgebrauchs und dem natürlichen Sprachbewusstsein gerecht. Hier sind wir alle, Linguisten und Laien, schon von der antiken Grammatik durch den unglücklichen Begriff des Besitzens in eine irreführende und in diesem Sinne falsche Richtung gelenkt worden. Wir können diesen Unglücksweg der linguistischen Begriffsbildung und schulpädagogischen Benennung den «Possessivismus» des Sprachdenkens nennen. Und da er schon den Unmündigen eingepflanzt wurde und bisweilen immer noch wird, steht leider zu befürchten, dass diese Lehre einige unliebsame Folgen von unbekannter Tragweite gehabt oder angezeigt hat. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass die Ursachen dieses Possessivismus viel tiefer liegen und sozial-ökonomische Verhältnisse widerspiegeln, die allein von der Sprachkritik her nicht erreichbar sind. Das ist ein weites Feld.[ 1 ]
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Wir wollen im Folgenden den kritisch besprochenen Sachverhalt noch von einer anderen Seite beleuchten, und zwar mit Blick auf einige maßgebliche Wörterbücher der deutschen Sprache.[ 2 ] Sie sind, neben den Grammatiken, die Codices des Sprachgebrauchs. In ihnen spiegelt sich ziemlich zuverlässig die Sprachkultur einer Gesellschaft mit ihren Vorzügen oder Mängeln.
Die lexikographische Erfassung der deutschen Sprache beginnt, was die hochdeutsche Standardsprache betrifft, im 16. und 17. Jahrhundert im Wirkungskreis mitteldeutscher Kanzleisprachen sowie verschiedener Akademien und Sprachgesellschaften des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Sie erreicht einen ersten Höhepunkt in der Goethe-Zeit durch die beiden großen Wörterbücher von Johann ChristophAdelung und Joachim Heinrich Campe. Beide Wörterbücher beschreiben mit normativer Zielsetzung den seinerzeitigen Sprachgebrauch etwa so, wie wir ihn von den Klassikern kennen.
Adelungs Wörterbuch hat den Titel «Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart» (2. Aufl. 1796). Campes Wörterbuch ist unter dem Titel «Wörterbuch der deutschen
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